Diego Simeone - der geheime GOAT am Scheideweg
Fans durften Diego Simeone in seinem 39. Madrid-Derby als Atletico-Coach in gewohnter Manier an der Seitenlinie besaunen: körperlich voll investiert, gestikulierend, aggressiv. Doch was für viele wie ein personifiziertes Markenzeichen oder ein Maskottchen erscheint, hat Hand, Fuß und in der Regel einen genialen Spielplan.
Simeone zog am Samstag gleich mit dem legendären Luis Aragones. Denn das Topspiel des 23. Spieltags der LaLiga war zugleich das 612. offizielle Spiel als Trainer von "Los Colchoneros" seit seinem Debüt am 7. Januar 2012. Die Statistik: 358 Siege, 143 Unentschieden und 111 Niederlagen. "El Cholo" knackte am Samstag auch einen weiteren Rekord: Mit insgesamt 425 Spielen ging Simeone als alleiniger Rekordhalter für die meisten Spiele als Liga-Coach in die Geschichtsbücher des spanischen Oberhauses ein.
Diego Simeone: Mit Mittelfeldmannschaft zum Titelsammler
Was aber wesentlich schwerer ins Gewicht fällt, sind die tatsächlichen Errungenschaften während seiner Ära: Seit dem Gewinn der LaLiga 1996 schaffte es Atletico vor Simeone nicht ein einziges Mal unter die ersten drei der Liga. Nach Amtsantritt führt der Argentinier sein Team gleich in der ersten vollen Saison auf diesen dritten Gesamtrang. Im weiteren verlauf gelang Simeone der Durchbruch der langjährigen Dominanz des FC Barcelona und Real Madrid: 2014 gewann Atletico die spanische Meisterschaft, 2021 wiederholte der Hauptstadtklub das Künststück nochmals. Überhaupt landete man seit 2012/2013 nur ein einziges Mal außerhalb der Top drei.
Unter dem 52-Järhigen gewann der Klub zudem zwei Mal die Europa League (2012, 2018) und nachfolgend den europäischen Supercup (2013, 2019), jeweils einmal die Copa del Rey (2013) und den spanischen Supercup (2015). Simeone führte seine Mannschaf darüber hinaus zwei Mal ins Finale der Champions League (2014, 2016). Im Finale 2014 war man nur Sekunden entfernt von einem 1:0-Sieg nach 90 Minuten, doch Erzrivale Real Madrid kam zum späten Ausgleich und gewann 4:1 nach Verlängerung.
Ein großer Knick für Simeone und Atletico, denn auch zwei Spielzeiten später unterlag man erneut Real im Finale - diesmal im Elfmeterschießen. Es waren winzige Details, die Simeone zwei Mal zum ganz großen Wurf gefehlt haben. Die ihm fehlen, um ihn unter den ganz großen seines Fachs einzureihen. Denn am Ende zählt man nur die Titel - und da thronen Ancelotti, Mourinho, Pep und Klopp mit ihren Triumphen in der Königsklasse.
Atletico: Der Kleinspender unter den Top-Klubs
Was man allerdings beachten sollte: Während sich beispielsweise ein Guardiola oder ein Ancelotti zumeist ins "gemachte Nest setzen" und nur absolute Spitzenteams trainieren, stürmte Siemone mit einem durchschnittlichen Team der LaLiga an die Spitze, und hält es dort seit mittlerweile über einem Jahrzehnt.
Wie signifikant der Unterschied der Möglichkeiten zwischen Simeones Atletico und anderen, internationalen Topklubs ist, lässt sich an den Transferbilanzen ablesen. Seit 2013 weist Atletico hier ein Transferminus von rund 114 Millionen Euro (Quelle: Transfermarkt) auf. Zum Vergleich: Der FC Barcelona liegt bei Minus 630 Millionen, Bayern München bei Minus 341 Millionen, Manchester City bei Minus 977 Millionen, United gar bei 1,181 Milliarden. Einzig Real Madrid mit Minus 122 Millionen liegt in einem ähnlichen Bereich wie Atletico, doch auch hier gibt es bemerkenswerte Unterschiede: Während Real's zehn teuerste Neuzugänge alle mindestens 50 Millionen Euro Ablöse gekostet haben, trifft dies bei Atletico nur auf die drei teuersten Verpflichtungen zu.
Und genau deshalb kriegt Simeone meiner Ansicht nach viel zu selten die Anerkennung, die ihm gebührt. Als "zerstörerisch" und "desktruktiv" wird das Spiel Atleticos in Deutschland gerne verpöhnt. Liebend gerne würde ich mal eine Mannschaft von Pep Guardiola unter gleichen finanziellen Voraussetzungen spielen sehen. Oder anders gesagt: Es wäre einer meiner größten Wünsche im Sport, Diego Simeone bei einem Team mit größerer Finanzkraft zu sehen.
Tatsächlich ist dies gar nicht so unwahrscheinlich. Denn seit dem Transfer von Joao Felix 2019 ist das Vermächtnis von Diego Simeone etwas angeknackst. Der Portugiese kam damals für 127 Milliionen Euro von Benfica und sollte Atletico endültig in den erweiterten Kreis der Großspender befördern, wodurch auch die Erwartunghaltung von Verein, Fans und vor allem Medien wuchs. Natürlich eine nicht ganz faire Einordnung, wenn man bedenkt, dass andere Manager sich Spieler dieser Größenordnung in jeder Transferperiode gönnen - und Joao Felix seine Klasse zuvor nie außerhalb der portugisieschen Liga unter Beweis gestellt hatte.
In der Champions League liegt das letzte Halbfinale für Atletico nichtsdestotrotz sieben Jahre zurück. Dieses Jahr schied man sang- und klanglos als Letzter in der Gruppenphase aus. Auch in der Liga läuft man aktuell etwas hinterher: Barcelona ist als Spitzenreiter mit 18 Punkte Vorsprung unerreichbar. Als Tabellenvierter kämpft man um die Qualifikation für die Königsklasse. Spekulative Berichte, wonach Simeone und Atletico nach der Saison getrennte Wege gehen, häufen sich.
Welche Möglichkeiten hält die Zukunft für Simeone offen?
Gerüchte über ein mögliches Engagement als argentinischer Nationaltrainer zirkulieren beispielsweise schon seit Jahren in der internationalen Presse. 2019 hatte sich Simeone gegenüber Fox Sports als "noch nicht bereit" für diese Aufgabe gesehen, und dass er für den Moment die "Arbeit auf täglicher Basis mit einem Team " bevorzuge. Nach dem WM-Titel der "Albiceleste" scheint es aktuell auch eher unwahrscheinlich, dass Simeone in naher Zukufnt Trainer Argentiniens wird.
Darüber hinaus wird der 108-malige Nationalspieler immer wieder mit Teams aus der Premier League in verbindung gebracht, zuletzt mit dem kriselnden FC Chelsea oder den Tottenham Hotspurs. Vor allem die Blues wären ein hochinteressantes Projekt für Simeone, bei dem er die nötigen Ressourcen und das nötige Umfeld hätte, um auf absolutem Elite-Level zu operieren und eine neue Äre einzuleiten.
Eine weitere Option ist Inter Mailand und die Serie A im Allgemeinen. von 1997 bis 2003 war Simeone hier als Spieler aktiv, Inter galt als einer seiner Herzensvereine. Doch auch ein Verbleib bei Atletico ist nicht ausgeschlossen. Spekulationen um einen Abgang gibt es nämlich schon seit Jahren, doch "El Cholo" hielt Atletico am Ende doch stets die Treue.
Wo auch immer Simeone landen wird, er wird seiner Arbeit mit Herzblut nachgehen: körperlich voll investiert, gestikulierend, aggressiv. Ich bin mir sicher, dass wir ihn eines Tages nochmals an der Seitenlinie eines Champions-League-Finalisten sehen werden, um sein Werk zu vollenden - vielleicht dann mit dem nötogen Quäntchen Glück auf seiner Seite.