Bilanz der Tour de France 2024: Planet Pogacar, Girmay märchenhaft, Politt oscarreif
GEWINNER
TADEJ POGACAR: Jüngster Dreifach-Sieger der Tour-Geschichte. Erster Profi seit 26 Jahren, der Giro und Tour in einem Jahr gewonnen hat. Und das sind nur die härtesten der harten Fakten. Pogacar dominierte die Tour von Anfang bis Ende, fuhr immer offensiv, verwaltete nie. Eine Augenweide, höchst unterhaltsam, auf und neben dem Rad. Der Slowene ist ein Bilderbuch-Champion.
JONAS VINGEGAARD: Von der Intensivstation aufs Tour-Podest. Noch immer spekuliert die Radsportwelt darüber, wie schwer Vingegaards Verletzungen von der Baskenland-Rundfahrt im April nun wirklich waren. Dennoch: Der Däne ließ alles auf dem Rad, kämpfte drei Wochen lang - wenngleich meist in der Defensive. Ein topfitter Vingegaard gegen einen topfitten Pogacar bei der Tour 2025 - das wäre ein Traumduell.
BINIAM GIRMAY: Die Feelgood-Story der Tour. Ein Eritreer wurde zum überragenden Sprinter, gewann drei Etappen, das Grüne Trikot und mit seiner sagenhaften Nahbarkeit die Herzen der Fans. In Eritreas Hauptstadt tanzten die Menschen vor den Cafes auf den Straßen, "Bini" ist dort Volksheld. Afrika drängt in die Radsport-Weltklasse, die WM 2025 findet in Ruanda statt. Eine fantastische Entwicklung.
NILS POLITT: Lokomotive, Bodyguard, Mentalitätsmonster: Der Kölner Klassikerliebhaber mutierte bei der Tour zum Bergfahrer, machte für seinen Kapitän Pogacar am Tourmalet und der Bonette das Tempo - mit 1,92 m Körpergröße und 80 kg Gewicht. Politt war der perfekte Teamplayer, ein heißer Anwärter auf den Oscar für die beste Nebenrolle.
FRANKREICH: Sieg und Gelb für Romain Bardet an Tag eins, drei Etappenerfolge vor dem ersten Ruhetag - die Franzosen begannen furios. Auch wenn danach sportlich nicht mehr viel lief und der so ersehnte erste Tour-Erfolg seit Bernard Hinault 1985 wieder einmal Lichtjahre entfernt war, feierte die Grande Nation danach ihr gewohntes Volksfest, auch und gerade am Zielort Nizza. Sommer ist Tour ist Sport ist Stimmung ist - fantastisch und französisch. Und jetzt kommt Olympia.
VERLIERER
RED BULL-BORA-HANSGROHE: So viele Namen, so wenige Erfolge. Die deutsche Spitzenmannschaft unterzog sich zur Tour einem Lifting, holte einen neuen Hauptsponsor an Bord und hielt in dessen Salzburger Heimat spektakulär Hof. Im Rennen selbst ging dann so ziemlich alles schief: Primoz Roglic - raus, Alexander Wlassow raus, kein Etappensieg, kein Fahrer unter den Top 15, tristes Mittelfeld in der Teamwertung. Investment und Ertrag klafften meilenweit auseinander. Seine volle Wirkung dürfte das Red-Bull-Engagement aber erst in der Zukunft entfalten.
PRIMOZ ROGLIC: 2020 verlor Roglic den Toursieg am vorletzten Tag an Landsmann Pogacar - so nah wird er wohl nie mehr an Gelb herankommen. Der sündhaft teuer entlohnte Kapitän, vom Vingegaard-Rennstall zu "RBBH" geholt, stand sinnbildlich für sein enttäuschendes Team, beging auf den ersten Etappen rätselhafte Fehler, schied dann nach einem (nicht selbstverschuldeten) Sturz aus. Ein neuer Anlauf Richtung Podest 2025? Fraglich: Roglic ist dann fast 36, Red Bull setzt womöglich auf den als Zugang gehandelten Remco Evenepoel.
MATHIEU VAN DER POEL: Der neben Tadej Pogacar beste Radfahrer der Welt musste schmerzhaft anerkennen, dass eine Tour nichts für ihn ist. Die Berge? Zu hoch. Die Sprints? Zu schnell. Platz elf auf der Schotteretappe von Troyes, die seinen geliebten Klassikern am nächsten kommt, war das beste Ergebnis des Weltmeisters. Immerhin: Als Anfahrer des dreimaligen Sprintsiegers Jasper Philipsen hatte er Grund zum Feiern.
DIE SPRINTER: Keine leichte Tour für die schnellsten Profis: Diesmal kein Spurtfinale auf den Champs Elysees, stattdessen letzte fünf Tage voller Kletterei und Leiden. Das taten sich diverse Sprinter (Bauhaus, Gaviria, Bennett) nicht mehr an, das Feld dünnte aus. Schade, die Storys um Girmay und Cavendish hätten eine andere Fortsetzung als im Gruppetto verdient gehabt.