Niederlande und Argentinien: Durch die Sehnsucht nach dem Titel geeint
Tulpengeneral Louis van Gaal hatte nach der punktemäßig erfolgreichen, in der Spielweise aber enttäuschenden Gruppenphase viel Kritik einstecken müssen. Gegen Ecuador mühten sich die Niederlande glücklich zu einem 1:1. Wie man im Achtelfinale den erfrischend auftretenden US-Boys die Zähne zog, ließ bei den Fans der Oranje wieder etwas Hoffnung aufkeimen, der ersehnte WM-Pokal befinde sich tatsächlich in greifbarer Nähe. In der Runde der letzten 16 drückten vorwiegend Daley Blind und Denzel Dumfries dem Spiel ihren Stempel auf, Cody Gakpo ist bei der WM in Katar ohnehin in bester Spiellaune.
Die jüngste WM-Historie hatte das über Jahrzehnte eingeprägte Bild vom ewigen Vize-Weltmeister gefestigt. 2010 versuchte man, die damals überragenden Spanier mit einer kämpferischen Linie und teils unfairen Mitteln in die Knie zu zwingen. Nigel de Jong verpasste dem heutigen Leverkusen-Trainer Xabi Alonso einen regelrechten Kung-Fu-Tritt, doch die leichtfüßigen Iberer, um sich davon einschüchtern zu lassen. Andrés Iniesta mutierte in der Verlängerung zum Goldtorschützen. Spanien feierte erstmals einen WM-Titel, die Niederlande gingen auch im dritten WM-Finale mit leeren Händen vom Platz.
2014 in Brasilien durfte sich Van Gaal bereits als Bondscoach beweisen. In der Gruppenphase traf man erneut auf Spanien – und revanchierte sich mit einem bis heute unvergessenen 5:1-Erfolg. Bis zum Semifinale überzeugte die Elftal mir erfrischender Spielweise, dort stellten Messis Argentinier die Endstation dar. 2018 versäumten die Niederländer gar die Qualifikation. Kein Wunder also, dass beim allmählich mit dem Karriereende liebäugelnden, aber noch immer erfolgshungrigen Louis van Gaal der Titelhunger riesig ist. Wie ohnehin in der ganzen Nation.
Ganz ähnlich stellt sich die Situation in Argentinien dar. Zwar feierte die Albiceleste im Gegensatz zur Oranje bereits zwei Titel: 1978, mit einem Finalerfolg ausgerechnet gegen Holland und 1986, als Diego Maradona mit bis heute unerreichter Ballkunst den Globus verzauberte. Eben jenen Erfolg Maradonas soll der große Superstar der Moderne endlich egalisieren: natürlich ist die Rede von Lionel Messi. La Pulga hat in Katar zum wohl letzten Mal Gelegenheit, das alte Vorurteil aus dem Weg zu räumen, er wäre auf Vereinsebene zwar übermäßig, im argentinischen Nationalteam aber so gut wie gar nicht erfolgreich.
Der Copa América-Titel 2021 stellt seine Landsleute langfristig ebenso wenig zufrieden, wie die um Klärung der GOAT-Frage bemühten Fachexperten. Nach der peinlichen Auftaktniederlage gegen Saudi-Arabien schien das Kapitel Messi und WM endgültig mit Frustration zu enden. Die dutzend anderen Überraschungen im Turnierverlauf, wie auch die stark verbesserten argentinischen Auftritte bewiesen, wie voreilig die düsteren Prophezeiungen vom Aus in der Gruppenphase waren.
Trainer Lionel Scaloni waren die Fans in Argentinien nach dessen Amtsantritt mit enormer Skepsis begegnet. Doch dem einstigen Assistenten von Jorge Sampaoli gelang das schon unmöglich geglaubte: Er band Messi erfolgreich in das System seiner Mannschaft ein. Im Nationalteam hatte der PSG-Star seinen Platz zuvor nie recht finden wollen, doch mit Unterstützung von Mittelfeld-Haudegen Rodrigo de Paul fand der Kapitän eine auf ihn zugeschnittene Rolle. Umso wichtiger, dass sich der Atlético-Akteur nach einer Hüftverletzung rechtzeitig aufrappelt und für das Viertelfinale am Freitag fit meldet (20 Uhr, ARD/Magenta Sport und im Flashscore-Audiostream).
De Paul entbindet Messi von dessen defensiven Aufgaben, der kann sich fallen lassen und je nach Lust und Laune mit Zauberpässen oder Dribblings auf engstem Raum den Gegner vor Probleme stellen. Genügte Messis Leistung nicht, halfen zuletzt gerne junge Talente wie Julián Álvarez oder Alexis Mac Allister als Torschützen aus. Die wiedergefundene Form ist aber noch lange kein Garant, den Niederländern erneut die Titelträume zu vermasseln: Wer Louis van Gaal kennt, weiß, dass durch dessen Kopf höchstwahrscheinlich schon seit Tagen zahlreiche taktische Ideen schwirren, wie auch Messis WM-Reise ein Ende gesetzt werden kann.
Das Personal: Niederlande
Stefan de Vrij gilt als angeschlagen, spielte in den Überlegungen von Trainer Van Gaal bislang aber ohnehin keine große Rolle. In der Dreierabwehr war Liverpools Van Dijk natürlich gesetzt, daneben dürfen sich üblicherweise Nathan Aké und Jurriën Timber beweisen. Bayern-Spieler De Ligt wird zumindest den Großteil der Partie erneut von der Ersatzbank aus beobachten. Ein Freund großer Umstellungen ist der knurrige Trainer bei dieser Weltmeisterschaft ohnehin nicht.
Auf den Außenbahnen lieferten Dumfries und Blind großartige Leistungen und werden auch im Viertelfinale als Schienenspieler gesetzt sein. Frenkie de Jong lenkt das Mittelfeld, während die taktisch flexiblen Stürmer Gakpo und Depay je nach Spielsituation selbst in die Spitze gehen oder sich auf die Flügelräume fokussieren werden. Im Kasten ist Heerenveen-Keeper Andries Noppert weiterhin gesetzt.
Voraussichtliche Aufstellung der Niederlande:
Noppert - Timber, Van Dijk, Aké - Dumfries, De Roon, De Jong, Blind - Klaassen - Gakpo, Depay
Das Personal: Argentinien
Das größte Fragezeichen für Lionel Scaloni lautet Ángel di María (34). Der Juve-Routinier gilt als überbelastet, der gleichaltrige Papu Gómez gilt bei der Suche nach einem Ersatz als erste Wahl. Wobei auch der Sevilla-Akteur wegen einer Verletzung am Sprunggelenk fraglich ist. Der bei der WM enorm glücklose Lautaro Martínez hat dementsprechend ebenfalls Außenseiterchancen auf einen Startplatz.
Links hinten besteht ein unverändert großer Konkurrenzkampf zwischen Nicolás Tagliafico und Marcos Acuña – keiner der beiden Akteure konnte bislang restlos überzeugen. Im zentralen Mittelfeld hat sich Enzo Fernández ebenso als Leistungsträger etabliert, wie Mac Allister und der leicht angeschlagene De Paul.
Voraussichtliche Aufstellung von Argentinien:
E. Martínez - Molina, Romero, Otamendi, Acuña - Fernández, De Paul, Mac Allister - Messi, Álvarez, Gómez