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Kommentar: Warum im Handball immer dieselben gewinnen - und Deutschland nicht dazugehört

Heik Kölsch
Ein gewohntes Bild in den vergangenen beiden Jahrzehnten: Spanien feiert bei der EM 2022 gegen Deutschland, daneben Tobias Reichmann (l.).
Ein gewohntes Bild in den vergangenen beiden Jahrzehnten: Spanien feiert bei der EM 2022 gegen Deutschland, daneben Tobias Reichmann (l.).Profimedia
20 der vergangenen 23 Länderturniere im Handball (Weltmeisterschaft, Europameisterschaft, Olympia) gingen seit 2005 an Frankreich, Dänemark oder Spanien. Drei Länder, die nunmehr seit fast zwei Jahrzehnten die Handballbühne dominieren. Trotz einer soliden Weltmeisterschaft 2023 in Polen und Schweden kann Deutschland davon aktuell nur träumen. Doch warum hinkt die Auswahl des Deutschen Handball Bundes (DHB) über einen so langen Zeitraum hinterher? Ein Kommentar von Heik Kölsch

Immerhin gelang Deutschland währenddessen mit dem WM-Sieg 2007 im eigenen Land und dem EM-Sieg 2016 zwei herausragende Erfolge. In puncto Titel steht man also direkt hinter den Top 3. Ein Zeichen dafür, dass - wenn alles passt - doch mehr drin ist und es sich bei der Auswahl des DHBs womöglich um einen "schlafenden Riesen" handelt.

Auf der anderen Seite muss man sich ehrlicherweise eingestehen, dass diese Titel zu den jeweiligen Zeitpunkten eher Ausreißer waren. Zumindest konnte man die Resultate in den Folgejahren nicht bestätigen: bei der EM 2008 erreichte man immerhin noch das Halbfinale - bei der WM 2017 war im Achtelfinale gegen Katar Schluss.

Die deutschen Weltmeister 2007 von links nach rechts: Pascal Hens, Christian Schwarzer und Markus Baur.
Die deutschen Weltmeister 2007 von links nach rechts: Pascal Hens, Christian Schwarzer und Markus Baur.Profimedia

Kroatien, dass über den genannten Zeitraum doch immerhin 11 Medaillen sammelte, wäre wohl eher die Wahl für das vierte Team im Bunde. Dahinter schnitten auch weitere Mannschaften wie Norwegen, Schweden oder Island regelmäßig besser ab als das DHB-Team.

Doch wie ist es möglich, dass ein Land von über 80 Millionen Einwohnern, in dem Handball zu den Top 5, wahrscheinlich sogar den Top 3 Sportarten gehört, nicht konkurrenzfähig gegenüber anderen Nationen wie Frankreich oder Spanien ist, wo Handball neben anderen Disziplinen wie Tennis, Basketball, Radsport, Wintersport oder Rugby weit hinten ansteht? Wie ist es möglich, dass das Land mit der "stärksten Handballliga der Welt" es nicht schafft, regelmäßig in Halbfinals der großen Wettbewerbe einzuziehen?

Legionäre auf wichtigsten Positionen in der Liga

Allem voran fällt auf, wenn man sich die Top-Teams der Handball Bundesliga anschaut, dass die Kader mit Legionären gefüllt sind. Im aktuellen Aufgebot des Rekordmeisters THW Kiel stehen zwar auch 10 Deutsche. Keiner davon füllt jedoch eine der zentralen Positionen, zum Beispiel im Rückraum, aus. Ähnlich verhält es sich bei den direkten Konkurrenten. Juri Knorr von den Rhein-Neckar Löwen und Philipp Weber (SC Magdeburg) sind hier die Ausnahmen.

Juri Knorr gilt als größtes deutsches Talent
Juri Knorr gilt als größtes deutsches TalentProfimedia

Eine Parallele lässt sich hier auch mit der Premier League im Fußball ziehen: Die englische Liga gilt seit Jahren als das Maß aller Dinge. Die Top-Klubs haben die finanziellen Möglichkeiten, sich die stärksten Kader der Welt mit Legionären zusammenzustellen. Der englischen Nationalmannschaft fehlt es dagegen an Erfolg, der einzige internationale Titel datiert aus dem Jahr 1966.

Junge, einheimische Spieler müssen sich oft mit den besten Athleten weltweit messen - und scheitern dabei in aller Regel an dem Druck. Zum Vergleich: Beim dänischen Topclub Aalborg stehen fast ausschließlich Dänen unter Vertrag. Erst wenn die jungen Spieler zur Weltklasse gereift sind, folgt der Wechsel in die Bundesliga oder zu anderen Spitzenclubs.

Darüber hinaus muss man sich die berechtigte Frage stellen: Ist der Slogan "beste Handballliga der Welt" überhaupt noch valide? Während deutsche Teams von 2010 bis 2014 vier von fünf Titeln in der Champions League unter sich ausgemacht hatten und den europäischen Vereinshandball scheinbar nach Belieben dominierten, trug sich mit dem THW Kiel 2019/20 nur ein einziger deutscher Vertreter in die Siegerliste der letzten acht Jahre ein.

In der Breite ist das Niveau in der Bundesliga sicherlich nach wie vor unantastbar. Doch in der Spitze haben Teams aus Spanien, Frankreich, Ungarn und Polen den deutschen Teilnehmern in den letzten Jahren immer mehr den Rang abgelaufen.

Deutschland: Fußball ist König

Ein weiterer Punkt, den man in Betracht ziehen muss, ist der deutsche Fokus auf der Hauptsportart Fußball. Betrachtet man sich die Mitgliederzahlen der deutschen Sportverbände, ist eines klar: Erst kommt der "König", dann lange nichts. 2022 waren rund 1,5 Millionen Jugendliche (Quelle: DOSB) im Alter zwischen 7 und 18 Jahren in einem Fußballverein gemeldet, dahinter folgen Tennis mit rund 200.000 Mitgliedern und Handball mit knapp 150.000 Gemeldeten.

Allerdings: Mit knapp 450.000 männlichen Mitgliedschaften übersteigt man alleine damit die Gesamtzahl aus Frankreich (rund 334.000 in 2021/Quelle: CNEWS) und Spanien (rund 93.000 in 2021/Quelle: Estadística de Deporte Federado) deutlich.

Woran liegt es also dann?

Talent, Mentalität und Kultur - oder die Nische

Frankreich hat sich, nicht nur im Handball, in den letzten Jahren zu der dominanten Teamsport-Nation weltweit entwickelt. Titel im Fußball, Handball und Basketball untermauern dies. Wenn eine französische Nationalmannschaft auf dem Platz oder Parkett steht, sieht man oft eine erfolgreiche und harmonische Einheit von Individuen mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen und physischen Voraussetzungen. Beispiele vor allem aus dem Fußball zeigen, dass Deutschland sich hier ein Beispiel nehmen könnte.

Speziell im Handball gilt Ähnliches auch für Spanien: Arpad Sterbik, Rolando Urios, David Davis und aktuell die Dujshebaev-Brüder sind nur einige Beispiele für eingebürgerte Spieler, die Ären in der spanischen Nationalmannschaft prägten. Die Iberer zeichnen sich im Handball seit jeher darüber hinaus auch durch ihre exzellente, taktische Ausrichtung aus. Jordi Ribera übernahm 2016 das Ruder und hat seitdem schon so einige Spiele (und Turniere) zugunsten seiner Mannschaft gecoacht.

Der gebürtige Serbe Arpad Sterbik wurde mit Spanien Welt- und Europameister
Der gebürtige Serbe Arpad Sterbik wurde mit Spanien Welt- und EuropameisterProfimedia

Andere Nationen definieren sich über alternative Nischen: Kroatien gilt seit seiner Unabhängigkeit 1991 als hochtalentierte Sportnation. Trotz einer Einwohnerzahl von nur rund 4,5 Millionen Einwohnern bringt der Balkan-Staat immer wieder exzellente Sportler hervor. Jüngstes Beispiel: Bei der Fußball-WM 2022 in Katar gewann man mit dem dritten Platz nach Silber 2018 die zweite Medaille in Folge. Durch die "goldene Generation" im Handball, die 2003 die WM und 2004 die Goldmedaille bei Olympia gewann, hat das Volk eine besondere Bindung zum Sport. Auf lokalen Bolzplätzen gehört Handball neben dem Fußball zum Standardprogramm.

In Skandinavien gilt Handball dagegen sogar als Sportart Nummer eins, teilweise noch vor dem Fußball. Im Land des dreimaligen Weltmeisters herrscht eine regelrechte Handball-Begeisterung. "Ich denke, Handball kommt der Art und Weise sehr nahe, wie wir uns als Gesellschaft, als Kultur darstellen, die als Team agiert und sich über Zusammengehörigkeit definiert", erklärt der dänische Handball-Historiker Thomas Ladegaard einst.

Folgen Deutschlands beste Handballjahre?

Eine Einstellung, die deutsche Handballfans wohl gerne auch im eigenen Land sehen würden. Hoffnung gibt es. Denn im Endeffekt ist Handball zwar ein Teamsport. Ähnlich wie im Basketball können einzelne Athleten jedoch den Unterschied ausmachen, sodass hier auch der Zufall eine Rolle spielt. Mit zwei oder drei Weltklasse-Spielern im Kader kann man eine Weltmeisterschaft gewinnen. Juri Knorr hat bei der WM 2023 in Schweden und Polen eindrucksvoll gezeigt, dass er ein solcher Weltklassespieler werden kann.

Eine treibende Kraft, noch mehr solcher Spieler auch in Deutschland hervorzubringen, sind die Füchse Berlin. Der Hauptstadt-Klub tätigt seit Jahren Investitionen in eines der führenden Nachwuchszentren Europas, um ein hochmodernes Videosystem. Genau in diesem Punkt hinkte Deutschland in den 2000ern vielleicht hinterher, während Länder wie Frankreich, Dänemark und Kroatien bereits damals vermehrt in ihre Talentförderung investierten.

Die Resultate dieser neuen Bewegung spiegeln sich in den jüngsten Leistungen der U21 Deutschlands wider: In einem Turnier der vier besten Jugendteams schlug man Europameister Spanien 43:22, Vize-Europameister Portugal mit 43:24 und Frankreich mit 35:23.

"Die U21-WM ist ein Riesen-Highlight, für das es sich lohnt, Werbung zu machen. Dort können die Jungs auch den nächsten Schritt gehen. Dann bin ich gespannt, wer in Zukunft den Schritt Richtung A-Nationalmannschaft schafft", hatte auch Nationalmannschaftskapitän Johannes Golla gegenüber Sport1 verlauten lassen.

Das "Jahrzehnt des Handballs" wurde eingelätutet - ist es Deutschlands?

"Die fetten Handball-Jahre haben gerade erst begonnen", kündigte auch Ex-DHB-Vizepräsident und Füchse-Geschäftsführer Bob Hanning nach der vielversprechenden WM mit dem fünften Platz liebevoll an.

Dabei bezog er sich auch auf das massive Programm an Heim-Turnieren für die deutschen Teams: Die Junioren-WM findet im Juni und Juli 2023 in Deutschland statt, im Januar 2024 ist man Gastgeber der Männer-EM, 2027 folgt die Heim-WM.

Man darf aus deutscher Sicht dank des aktuellen Spielermaterials, den jüngsten Leistungen des A-Teams und vor allem der vielverheißenden Jugendmannschaften gespannt sein, was das "Jahrzehnt des Handballs" mit sich bringt. Eine "Medaille oder das Halbfinale bei der Heim-EM" wolle man laut DHB-Keeper Andreas Wolff im nächsten Jahr anpeilen. Es ist ein weiterer Anlauf, die Dominanz der Top 3 des Handballs zu brechen. Wird er diesmal gelingen?