Kommentar: Harry Kane zu Bayern München – Der richtige Schritt zur falschen Zeit
Eine weitere turbulente Saison für Tottenham Hotspur endet. Ein weiteres Jahre ohne, am europäischen Geschäft teilzunehmen. Ein weiteres Jahr, in dem Harry Kane nicht in der Lage war, seine erste große Trophäe zu gewinnen.
Er selbst hatte ein gutes Jahr. In 38 Premier-League-Spielen erzielte er 30 Treffer. Er war seine erste Spielzeit, in der ihm keine groben Verletzungen zurückwarfen. Er wurde zum ersten Spieler in der Premier-League-Historie, der in zwei aufeinander folgenden Jahren die 30-Tore-Marke durchbrechen sollte.
Und doch sind viele der Meinung, dass Kane unbedingt bald einen Titel gewinnen muss – irgendeinen – um sein Vermächtnis, als einer der ganz Großen des Fußballs zu festigen.
Daran ändern auch zahlreiche Rekorde nichts. So wurde er in diesem Jahr bester Torschütze aller Zeiten. Sowohl für seinen Verein als auch für die englische Nationalmannschaft.
Es scheint, als wäre er nur noch zwei, vielleicht drei Saisons davon entfernt, Alan Shearers Rekord von 260 Premier-League-Treffern zu übertrumpfen. Kane liegt derzeit bei 213 Toren. Tottenham ist allerdings auf keinen Fall dazu bereit, ihn an einen Rivalen aus der eigenen Heimat zu verkaufen. So könnte Kane dazu gezwungen sein, im Ausland auf Trophäenjagd zu gehen.
Denn die Spurs wirken von der ersehnten Silberware unverändert weit entfernt. Im Sommer kündigt sich ein weiterer Kaderumbruch an.
Spekulationen um einen baldigen Wechsel begleiten Kane schon seit etlichen Jahren. Sein einzigartiger Stil – er vereint alle Fähigkeiten eines Finishers, aber auch alle eines Spielmachers aus der Tiefe – und seine Führungsqualitäten werden international hochgeschätzt.
Viele gescheiterte Versuche
Vereine wie Manchester United, Real Madrid und PSG wurden schon vor Jahren als mögliche Abnehmer genannt. Noch nie bestätigten sich die Gerüchte.
Knapp wurde es im 2021. Da stand Kane wohl tatsächlich kurz davor, zu Manchester City zu wechseln. Doch Pep Guardiola entschied sich für die Verpflichtung von Jack Grealish – und im kommenden Jahr dafür, die Ausstiegsklausel von Erling Haaland zu aktivieren. Der norwegische Superstar funktionierte im Etihad auf Anhieb. Bedarf für Kane besteht mittlerweile keiner mehr.
Insider berichten, dass Kane sich lange über den geplatzten Wechsel den Kopf zerbrochen haben soll. Er sei es leid, immer nur individuelle Auszeichnungen zu erhalten, aber weiterhin keine der großen Trophäen gewonnen zu haben. Als City verzweifelt nach einem Ersatz für den scheidenden Sergio Agüero suchte, schien Kanes große Zeit gekommen.
Warum der Deal platzte? Nur ein Jahr zuvor hatte er einen langfristigen und extrem lukrativen Vertrag bei Tottenham unterschrieben. Vereinsboss Daniel Levy konnte ein überhöhtes Preisschild an Harrys Kopf heften.
Die Bayern waren schon früher interessiert
Bayern München hatte bereits in der Vergangenheit sein Interesse an Kane bekundet, insbesondere als man Robert Lewandowski vergangenen Sommer an Barcelona verlor.
Der deutsche Rekordmeister sprach rasch offen über das Interesse an Kane. Ob damals schon Gespräche stattgefunden haben – oder ob Spurs-Chef Daniel Levy sie überhaupt in Erwägung gezogen hätte –, bleibt unbekannt.
Vor Tottenhams erstem Champions-League-Gruppenspiel gegen Eintracht Frankfurt wurde Kane erstmals mit den Gerüchten direkt konfrontiert. Seite an Seite mit dem damaligen Trainer der Spurs, Antonio Conte, nutzte Kane die Pressekonferenz, um die Gerüchte zurückzuweisen – nicht ohne zuvor ein paar positive Worte über den deutschen Serienmeister zu verlieren:
"Ich konzentriere mich auf Tottenham Hotspur und wir versuchen, unser Bestes zu geben", sagte Kane: "Sicherlich sind die Bayern ein Top-Verein, aber meine ganze Konzentration gilt Tottenham."
Bayern machte schließlich einen Rückzieher, zumindest vorübergehen. Und schon damals erklärte man, höchstwahrscheinlich würde man "im nächsten Sommer" wieder angreifen.
Und jetzt ist es soweit: Ein offizielles Angebot über 70 Millionen Euro wurde an die Spurs gefaxt - und der FCB ist angeblich bereit, noch mehr zu bieten. Was auch notwendig sein wird.
Immer mehr Briten im Ausland
Das Interesse der Bayern einige interessante Fragen auf. Immer mehr englische Stars suchen ihr Glück nicht mehr ausschließlich in der Heimat, sondern in ganze Europa. Die Bundesliga erwies sich für junge englische Talente als hervorragender Nährboden. Jadon Sancho und Jude Bellingham seien als Beispiele genannt.
Sancho wechselte schließlich für viel Geld und mit gemischten Gefühlen zu Manchester United, während der in Birmingham geborene Bellingham vor kurzem einen sensationellen Wechsel zu Real Madrid über die Bühne gebracht hat. Die Zukunft bei den Königlichen gehört zweifellos ihm.
Auch außerhalb Deutschlands gibt es Spieler, die bei namhaften ausländischen Vereinen bemerkenswerte Leistungen erbracht haben. Spieler wie Chris Smalling, Tammy Abraham und Fikayo Tomori sind in Italien hoch angesehen und haben in den letzten beiden Spielzeiten einige Titel gewonnen.
Für Kane könnte sich der Wechsel zu Bayern München also tatsächlich lohnen. Ein altbekannter Cheat-Code lautet: Wer Titel möchte, muss zum FC Bayern gehen. Doch von einem möglichen Champions-League-Erfolg mal abgesehen und bei allem Respekt für den deutschen Fußball: Genügt es ihm tatsächlich, am Ende seiner Karriere sagen zu können, mit dem ohnehin seit Jahrzehnten unverschämt dominanten FC Bayern ein paar Titel auf nationaler Ebene gewonnen zu haben?
Die englische Öffentlichkeit wird sich an einen Lebenslauf erinnern, der nur Bundesliga- oder DFB-Pokal-Titel enthält, nicht besonders gut erinnern können. Natürlich, eine Champions-League-Siegermedaille ergattert er in München eher als im Norden Londons. Aber seine Familie nach Deutschland umzusiedeln, wo er doch mittlerweile in ganz Großbritannien ein angesehener und vielfach gewürdigter Fußballspieler ist?
Das wäre vielleicht ein Schritt zu viel und würde für Nebeneffekte sorgen, die er sich ganz bestimmt nicht erhofft hat.
Shearer fangen
Auf dem Spiel stehen auch die viel diskutierten Premier-League-Rekorde. Harry Kane wird seit langem als jener Mann gehandelt, der Alan Shearers Rekorde brechen kann.
Angesichts der erschreckenden Zahlen von Erling Haaland könnte dieser Ruhe zwar nur von kurzer Dauer sein, aber gut, das steht auf einem anderen Blatt Papier.
Die entscheidende Frage ist, ob Kane angesichts solch seltener und absolut erreichbarer Rekorde wirklich seine Sachen packen und seine Chancen auf einen Platz in der englischen Geschichte einfach zunichtemachen will?
Taktische Eignung
Aus taktischer Sicht muss man kein Experte sein, um rasch festzustellen, dass Kane für jede Spitzenmannschaft der Welt spielen könnte.
Seine einzigartige Fähigkeit, sich zwischen den Linien zu bewegen und seine Mitspieler zu unterstützen, wäre für Trainer Thomas Tuchel ein nützliches Werkzeug. Schnelle Stürmer wie Leroy Sané, Serge Gnabry und Kingsley Coman würden mit seinem Rückhalt noch torgefährlicher werden.
Zudem ist er ein bemerkenswert intelligenter Spieler, der sowohl auf Vereins- als auch auf internationaler Ebene Erfahrung in den größten Spielen vorweisen kann. Von Sprachbarrieren und kulturellem Hintergrund – Kane beim Oktoberfest können sich wohl nur kreative Köpfe problemlos vorstellen – abgesehen, kann er sich in jeder Liga sofort anpassen.
Das Dilemma von Daniel Levy
Bleibt nur noch die Frage: Gibt es ein realistisches Szenario, bei dem die Spurs ihr wohl größtes und wertvollstes Kapital in der Vereinsgeschichte verkaufen würden? Nun, kurz gesagt: Ja.
Tottenham würde Kane zwar nur ungern abgeben, wäre aber weitaus glücklicher, wenn er ins Ausland ginge, als in der Premier League zu bleiben. Das war auch ein wesentlicher Knackpunkt bei dem gescheiterten Deal mit City. Daniel Levy ist nicht daran interessiert, Vereine zu stärken, die er als "direkte Konkurrenten" betrachtet.
Die Spurs müssen unter dem Druck der erfolgshungrigen Fans, mehr auf in die Gegenwart zu investieren. Oft wurde dem Verein vorgeworfen, den wirtschaftlichen Profit über Ruhm und Ehre zu stellen. In dieser Hinsicht könnte – zum Leidwesen der Spurs-Fans – das Scheckbuch der Bayern also von Levy gern gesehen werden.
Doch Kane hatte im Laufe seiner Karriere immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen. Besonders sein Knöchel machte ihm oft Probleme. Es gibt Zweifel, ober er in der für ihre Physis, Härte und einen prall gefüllten Spielplan bekannten Premier League ewig, als Stürmer auf höchstem Niveau agieren kann.
Außerdem läuft sein Vertrag aus und er könnte am Ende der nächsten Saison ablösefrei gehen. Es gibt also einen Punkt, an dem Levy ein akzeptables Angebot vom richtigen Verein akzeptieren könnte.
Gleichsam ist nach einer schrecklichen Saison, in der viele Fans mit den Besitzverhältnissen des Vereins unzufrieden sind, jetzt nicht der beste Zeitpunkt, um den beliebtesten und wichtigsten Spieler, den dieser Vereine je hatte, zu verkaufen.
Die Fans der Spurs hoffen, dass sich Kane als Vereinslegende verewigt, für den Rest seiner Karriere nirgends anders anheuert. Sollte die Titel-Durststrecke aber noch länger andauern, dürften jedoch auch sie Kane einen Wechsel nicht verübeln.