Anzeige
Anzeige
Anzeige
Mehr
Anzeige
Anzeige
Anzeige

Spanien oder England? Ein Finalduell der Gegensätze

Am Sonntag trifft spanischer Offensivgeist auf englische Effizienz.
Am Sonntag trifft spanischer Offensivgeist auf englische Effizienz.Profimedia
Während Spanien mit jugendlicher Leichtigkeit und Spielfreude bei dieser Europameisterschaft das Publikum in Deutschland und an den Bildschirmen verzückte, glichen die Turnierleistungen der Engländer bisher eher einem minimalistischen Drahtseilakt - und das nicht erst in dieser K.o.-Phase. Der risikoaverse Ansatz der Three Lions zieht sich bereits durch die gesamte Amtszeit von Trainer Gareth Southgate.

Gareth Southgate übernahm den Posten von seinem Vorgänger Roy Hodgson direkt nach der EM 2016, bei der die Engländer im Achtelfinale am Überraschungsteam aus Island mit 1:2 scheiterten. Seitdem bleibt die Kritik am konservativen Spielstil der englischen Nationalmannschaft insbesondere von den eigenen Fans nicht aus.

Die immense Qualität der Spieler auch im aktuellen Turnierkader lässt von höherer spielerischer Finesse träumen, Southgate hielt bisher aber unbeirrt an seiner Marschroute fest - Effizienz schlägt Schönspiel.

Zum Match-Center: Spanien vs. England

Sein Erfolg gibt ihm Recht

Trotz der nur selten Begeisterung hervorrufenden Spielzüge und Leistungen steht England zum zweiten Mal in Folge im Finale einer Europameisterschaft. Damit führte Southgate die Three Lions in vier Teilnahmen in mehr Endspiele von großen Turnieren als alle vorherigen englischen Nationaltrainer in 23 Versuchen bei Welt- und Europameisterschaften zusammen (einmal, nämlich beim WM-Titel 1966).

Gareth Southgate hat England zu einer Turniermannschaft geformt.
Gareth Southgate hat England zu einer Turniermannschaft geformt.Profimedia

Zudem weist auch nur ein englischer Nationaltrainer der Nachkriegszeit einen knapp besseren Punkteschnitt auf als Southgate (2,05 bei mindestens 50 Partien). Sir Alf Ramsey kam zwischen 1963 und 1974 auf 2.07 Punkte pro Länderspiel.

Ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss? Zumindest leisten sich die Engländer unter Southgate kaum Fehltritte und halten ein konstant hohes taktisches sowie physisches Niveau. Mit diesem Erfolgsrezept blieb England unter seinem aktuellen Nationaltrainer in allen bisherigen 13 EM-Spielen in der regulären Spielzeit ungeschlagen (8 Siege, 5 Unentschieden) - Trainer-Rekord bei Europameisterschaften.

Veränderte Vorzeichen

Am Sonntag (21 Uhr/LIVE in der Flashscore Audioreportage) findet das insgesamt dritte Aufeinandertreffen zwischen Spanien und England bei einer Europameisterschaft statt.

1980 gewann England in der Gruppenphase mit 2:1 und 1996 im Viertelfinale nach einem 0:0-Unentschieden mit 4:2 im Elfmeterschießen. Von den letzten 14 Pflichtspielen gegen die Three Lions verloren die Spanier allerdings nur vier (7 Siege, 3 Unentschieden), nachdem die Furia Roja zuvor siebenmal in Serie gegen England verloren hatte.

Übersicht: Die jüngsten fünf Duelle zwischen Spanien und England.
Übersicht: Die jüngsten fünf Duelle zwischen Spanien und England.Flashscore

Spanien hat außerdem die letzten drei Endspiele bei großen Turnieren gewonnen: die Europameisterschaften 2008 und 2012 sowie die Weltmeisterschaft 2010. Noch nie hat eine europäische Mannschaft vier Endspiele in Serie bei Welt- und Europameisterschaften für sich entschieden. Mit ihrem insgesamt dann vierten EM-Titel (nach 1964, 2008, 2012) würde Spanien der alleinige EM-Rekordsieger werden.

Unter den Fans galt England vor dem Turnier viel eher als klarer Titelkandidat denn Spanien. Im Verlauf dieser Europameisterschaft hat sich der Wind allerdings gedreht. Auch der Opta Supercomputer bescheinigte England vor dem Turnier mit 19,9 % die höchste Wahrscheinlichkeit aller Nationen, Europameister zu werden.

Spanien kam gut zwei Wochen vor dem Eröffnungsspiel auf 9,6 % (4. Platz im Ranking hinter England, Frankreich mit 19,1 % und Deutschland mit 12,4 %). Vor dem Finale sieht der Opta Supercomputer nun Spanien leicht im Vorteil (60 %, England 40 %).

Laut Opta ist Spanien am Sonntag leichter Favorit.
Laut Opta ist Spanien am Sonntag leichter Favorit.Opta Data Insights

Chance auf historischen Rekord

Hohen Einfluss auf die Berechnungen hatten die jüngsten Ergebnisse bei dieser Endrunde. Spanien ist das erste Team, das überhaupt sechs Siege (nach 90 oder 120 Minuten) in Serie bei einer Europameisterschaft feierte. Zudem könnte die Furia Roja auch die erste europäische Nation werden, die bei einem großen Turnier (WM/EM) alle sieben von sieben Spielen ohne Elfmeterschießen für sich entscheidet. 

Zwar gewann bspw. Frankreich auch alle Spiele der Europameisterschaft 1984, nach dem damaligen Turniermodus waren dies jedoch insgesamt lediglich fünf Partien.

Offensive Flexibilität und Direktheit

Spanien überzeugte nicht nur bei den Ergebnissen, sondern auch in der Art und Weise, wie die Tore herausgespielt wurden. Dabei ist allerdings eine klare Abkehr vom Tiki-Taka zu erkennen, mit dessen Hilfe die Furia Roja in der Vergangenheit so erfolgreich war. Während Spanien lange Zeit dafür bekannt war, mit einem dominanten Kurzpassspiel am gegnerischen Strafraum den Gegner einzuschnüren, agieren die Spieler unter Luis de la Fuente deutlich flexibler und direkter.

Im aktuellen Turnier liegen die Spanier mit im Schnitt 57 % Ballbesitz immer noch weit oben - allerdings "nur", auf Platz vier hinter England (58 %), Deutschland (63 %) und Portugal (66 %). Vergleicht man die Ballbesitzwerte mit denen früherer spanischer Nationalmannschaften, wird der Wandel noch klarer.

Bei der Weltmeisterschaft 2022 stellte Spanien mit 77 % noch den Rekord seit detaillierter Datenerfassung für ein Team bei einer Endrunde großer Turniere auf (WM seit 1966, EM seit 1980). In diesem Zeitraum kam Spanien bei 10 Welt- und Europameisterschaften auf einen im Schnitt höheren Ballbesitzanteil als bei der EURO 2024.

Nun liegt der Fokus zwar immer noch auf einem offensiven Ballbesitzfußball, allerdings setzen die Spanier diesen individueller und zielstrebiger um als zu Tiki-Taka-Zeiten. Beim letzten EM-Titelgewinn 2012 wurden auf der offensiven Außenbahn mit Andres Iniesta und David Silva zwei Spieler positionsfremd eingesetzt. Das Duo suchte in der Offensive häufig den Weg ins Zentrum und bot sich für kurze Pässe an.

Spaniens Ballbesitzzonen bei der EM 2012.
Spaniens Ballbesitzzonen bei der EM 2012.Opta Data Insights

Nun spielen mit Nico Williams und Lamine Yamal zwei ganz anders veranlagte Angreifer auf den Flügeln. Sie halten ihre Position breiter und suchen häufiger die offensiven 1-gegen-1-Situationen, um anschließend flanken oder selbst abschließen zu können.

Spaniens Ballbesitzzonen bei der EM 2024.
Spaniens Ballbesitzzonen bei der EM 2024.Opta Data Insights

Unter den Spielern mit den meisten Dribblings bei dieser Europameisterschaft liegen mit Williams (Rang 2) und Yamal (Rang 5) zwei Spanier in den Top 5. Bei der Erfolgsquote haben beide zwar noch nicht das Niveau der absoluten Elite-Außenstürmer, aber wettmachen sie dies durch ihre Scorerpunkte allemal.

Das Angriffstrio wird durch Dani Olmo komplettiert, der noch vor Yamal (4/1 Tor, 3 Assists) und Williams (1 Tor, 1 Assists) die meisten direkten Torbeteiligungen aller Spieler bei dieser Europameisterschaft aufweist. Nebenbei kommt Olmo auch auf die beste Erfolgsquote im 1-vs-1 (70 %) aller Spieler dieser EM, die mindestens so häufig wie er ins Dribbling gingen (20-mal).

Am meisten erfolgten die Angriffsbemühungen Spaniens bei dieser Europameisterschaft über die eigene linke Seite. Zuletzt im Spiel gegen Frankreich waren Nico Williams sowie sein Hintermann Marc Cucurella derart aktiv, dass 58,7 % der Angriffe der Furia Roja über ihre Seite vorgetragen wurden.

Die meisten spanischen Angriffe werden über die linke Seite ausgeführt.
Die meisten spanischen Angriffe werden über die linke Seite ausgeführt.Opta Data Insights

Dies hatte den positiven Nebeneffekt, dass die Abwehr der Franzosen häufig auf deren rechte Seite verschieben musste, was auf Spaniens eigener rechter Außenbahn mehr Platz für Yamal bedeutete.

Yamal auf den Spuren Peles

So wurde Yamal im Halbfinale mit seinem sehenswerten Treffer zum zwischenzeitlichen 1:1-Ausgleich zum jüngsten Torschützen (16 Jahre, 362 Tage) bei Welt- und Europameisterschaften. Er nutzte den vorhandenen Raum, um nach Innen zu ziehen und mit links abzuschließen. 

Mit seinem neuen Rekord beerbte der Spanier den legendären Brasilianer Pele, welcher bei der Weltmeisterschaft 1958 gegen Wales 17 Jahre und 239 Tage alt war. Einen weiteren Rekord würde Yamal brechen, wenn er im Finale zum Einsatz kommt.

Seinen 17. Geburtstag feiert Yamal am Tag vor dem Endspiel, mit 17 Jahren und einem Tag wäre er dann der jüngste Spieler, der jemals in einem Finale einer Welt- oder Europameisterschaft spielte (zuvor ebenso Pelé, mit 17 Jahren und 249 Tagen im Finale der WM 1958).

Ein echtes Wunderkind.
Ein echtes Wunderkind.Profimedia

Die bisher im Turnier meisten Expected Assists sammelte zwar mit Cody Gakpo (1,9) ein Niederländer, dahinter folgen aber unmittelbar Nico Williams und Yamal (je 1,8). Der junge Rechtsaußen des FC Barcelona war zudem an 13 Schüssen nach einem Dribbling direkt beteiligt (6 Schüsse, 7 Torschussvorlagen) und damit an mindestens drei mehr als jeder andere Spieler dieses Turniers.

Seine drei Assists sind der aktuelle geteilte Bestwert im Turnier (zusammen mit Xavi Simons). Bei einer weiteren Torvorlage wäre Yamal der erste Spanier, dem vier Assists in einer EM-Endrunde gelangen.

Getragen von ihren leichtfüßigen, mutigen Offensivkünstlern haben die Spanier bei der EURO 2024 bisher 13 Tore erzielt – nur Frankreich 1984 (14) hat bei einer Europameisterschaft je öfter getroffen.

Englische Defensive als Trumpf

Wenngleich die Three Lions auf eine fundamental andere Spielanlage als die Spanier setzen und nicht in jeder Partie dieser K.o.-Phase vollends überzeugten, stehen sie doch zurecht nach einer guten Halbfinal-Leistung im Endspiel dieser Europameisterschaft.

Auch zuletzt sicherte sich England das Weiterkommen erst spät. Das Tor von Ollie Watkins nach 89:59 Minuten war der späteste Siegtreffer in einem Halbfinale bei Welt- und Europameisterschaften in der regulären Spielzeit.

Die Basis für den aktuellen englischen Erfolg ist allerdings auf der anderen Seite des Platzes zu finden. Gareth Southgate hat ein stabiles Abwehrkollektiv geformt - obwohl wichtige frühere Defensivstützen wie Harry Maguire und Ben Chilwell verletzungsbedingt passen mussten. Auch Luke Shaw war erst unmittelbar vor dem Turnierbeginn fit genug, um der Nominierung Folge leisten zu können.

Pro Spiel ließen die Engländer bei dieser EURO 2024 bisher nur 0,88 gegnerische Expected Goals zu, das ist der viertbeste Wert aller Teams dieser Europameisterschaft hinter Frankreich mit 0,87, Serbien mit 0,86 und Belgien mit 0,85. Im Schnitt war jeder gegnerische Schuss lediglich 0,09 xG wert, was ein Zeichen für wenig aussichtsreiche Schussgelegenheiten darstellt, die England zuließ bzw. seine Gegner gezwungen waren zu nutzen, um überhaupt zum Abschluss zu kommen.

Die von England zugelassenen Abschlüsse.
Die von England zugelassenen Abschlüsse.Opta Data Insights

England hat in den letzten 20 Länderspielen zudem nur 13 Gegentore kassiert und nur ein einziges Mal mehr als einen Gegentreffer zugelassen: beim 2:2-Unentschieden im Freundschaftsspiel gegen Belgien im März. Nun erwartet die englische Defensive um Kyle Walker, John Stones und Marc Guehi nach dem Halbfinal-Duell mit der Niederlande eine weitere rigorose Herausforderung.

Eine Antwort auf jede Unwägbarkeit

Spanien, das bei der Europameisterschaft 2024 im Angriffsdrittel am häufigsten Gegnerdruck ausgeübt hat (890-mal), wird natürlich das englische Aufbauspiel konsequent zu stören versuchen. Allerdings zeigten die Engländer auch, dass sie mit solchem Druck umgehen können.

Die Three Lions wurden im Turnier insgesamt von den Gegnern am häufigsten unter Druck gesetzt (3369-mal). Auch der englische defensive Mittelfeldspieler Declan Rice, ein weiterer Eckpfeiler der Defensive, zeigte sich bisher außerordentlich Pressing-resistent. Er hatte bei der EURO 2024 unter hohem Druck mehr Ballaktionen (300) und mehr erfolgreiche Pässe (236) als jeder andere Spieler.

Nicht zuletzt wird es für England auch wieder auf die Treffsicherheit seines Kapitäns, Harry Kane, ankommen. Der Stürmer stellte seine ohnehin zweifelsfreie Abschlussqualität auch zuletzt in seiner ersten Bundesliga-Saison beim FC Bayern München erneut unter Beweis (Torschützenkönig mit 36 Toren in 32 Einsätzen) - und macht bei dieser Europameisterschaft keinen Anschein, beim Toreschießen nachzulassen. Seine drei Treffer sind der geteilte Bestwert im laufenden Turnier (mit fünf anderen Akteuren).

Harry Kane könnte sich am Sonntag den ersten großen Titel seiner Profi-Karriere sichern.
Harry Kane könnte sich am Sonntag den ersten großen Titel seiner Profi-Karriere sichern.AFP

Zuletzt im Halbfinale gegen die Niederlande traf Kane per Elfmeter ebenso wie Yamal zum zwischenzeitlichen 1:1-Ausgleich. Es war sein sechstes Tor in den K.o.-Phasen der Europameisterschaften. Das sind mehr als jedem anderen Spieler in der Geschichte dieses Wettbewerbs gelangen.

Es war außerdem Kanes neuntes Tor in den K.o.-Phasen bei Welt- und Europameisterschaften insgesamt - Bestwert aller europäischer Spieler.

Southgate hat mehrere Optionen

Wenn England ihn braucht, ist Kane zuverlässig zur Stelle und im Notfall kommen hochklassige Einwechselspieler wie Ollie Watkins, Cole Palmer oder der Elfmeterspezialist Ivan Toney von der Bank. Letztere Drei kamen in der vergangenen Premier-League-Saison auf zusammen 71 direkte Torbeteiligungen (45 Tore, 26 Assists), Southgate hat also auch immer die Möglichkeit, nochmal nachzulegen, wenn sich die Stammbesetzung in der Offensive schwer tut.

Auch das dürfte der Grund dafür sein, dass England bei der EURO 2024 in allen drei Spielen der K.o.-Phase das jeweils erste Tor der Partie kassiert hat, aber trotzdem eine Runde weiterkam. In den letzten sechs EM-Spielen, in denen sie zunächst zurücklagen, sind die Engländer ungeschlagen (5 Siege, 1 Unentschieden). Keine Mannschaft hat in der Geschichte des Wettbewerbs mehr solcher Spiele gewonnen.

Da Turniere häufig auch die Spielideen der Vereinstrainer prägen, wird es spannend sein mitanzusehen, welcher Ansatz bei dieser Europameisterschaft die Oberhand behält - die kontrollierte Defensive Englands oder Spaniens furiose Offensive.