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Analyse: Ist Deutschland reif für den Titelgewinn?

Micha Pesseg
Aktualisiert
Florian Wirtz jubelt über einen Treffer im Testspiel gegen Frankreich (2:0-Sieg).
Florian Wirtz jubelt über einen Treffer im Testspiel gegen Frankreich (2:0-Sieg).Profimedia
Am 14. Juni beginnt die Fußball-Europameisterschaft 2024. Deutschland wird das Heimturnier in München gegen Schottland eröffnen. Das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann geht als einer der Titelfavoriten in die EM 2024. Doch wo liegen eigentlich die Stärken, wo die Schwächen des DFB-Teams? Wer sind die deutschen Schlüsselspieler? Ist man tatsächlich reif für den Titel? Flashscore hat die deutsche Nationalmannschaft ganz genau unter die Lupe genommen.

Kader: Harte, aber wichtige Entscheidungen 

Erst im Oktober des Vorjahres wurde Julian Nagelsmann zum neuen Bundestrainer bestellt. Der ehemalige Bayern-Coach übernahm zunächst die von seinem Vorgänge Hansi Flick genutzte Kaderstruktur.

Nach einem enttäuschenden Länderspiel-Doppel im Herbst (2:3-Niederlage gegen die Türkei, 0:2 gegen Österreich) änderte Nagelsmann seine Herangehensweise.

Die Länderspiele gegen die Türkei und Österreich brachten Nagelsmann ins Grübeln.
Die Länderspiele gegen die Türkei und Österreich brachten Nagelsmann ins Grübeln.Flashscore

Der 37-Jährige traf einige harte Entscheidungen und sortierte neben Mats Hummels auch Leon Goretzka aus. Zudem versetzte er Joshua Kimmich vom zentralen Mittelfeld auf die rechte Abwehrseite. Manuel Neuer wurde trotz langwieriger Reha ein Stammplatz garantiert. Marc-Andre ter Stegen wurde endgültig auf die Ersatzbank verbannt.

Im Frühjahr bemühte sich Nagelsmann intensiv darum, Toni Kroos aus dem Ruhestand zu holen. Überraschenderweise willigte der 34-Jährige ein, bei der Europameisterschaft wird der Spielmacher zusammen mit Manuel Neuer und Thomas Müller das Herzstück der Mannschaft bilden. 

Ergänzt wird das Aufgebot durch einige Newcomer mit wenig Länderspielerfahrung - etwa Maximilian Mittelstädt oder Pascal Groß - und zwei Wunderkinder: Florian Wirtz und Jamal Musiala.

Schlüsselspieler: Zwei Altstars und zwei Supertalente

Die für Manuel Neuer ausgesprochene Stammplatzgarantie ist keineswegs risikoarm. In der Rückrunde war der 38-Jährige häufig ein Schatten seiner selbst. Der fünffache Welttorhüter leistete sich in der Bundesliga einige Wackler. Dennoch setzt Nagelsmann voll auf den Routinier: Sein starkes Spiel mit Ball am Fuß und sein riskantes Positionsspiel könnte die hochstehende Abwehrkette ideal ergänzen. 

Auch für Toni Kroos ist ein Platz in der Startelf reserviert. Er soll seinen Mitspielern als Ruhepol dienen. In den vergangenen drei LaLiga-Spielzeiten kam der zentrale Mittelfeldspieler stets auf eine Passquote von über 90 Prozent. Zudem ist er europaweit der Spieler mit den meisten linienbrechenden Pässen.

Passmaschine Toni Kroos wird bei der EM 2024 dringend benötigt.
Passmaschine Toni Kroos wird bei der EM 2024 dringend benötigt.AFP/Opta by StatsPerform

Den Spitznamen "Querpass-Toni" hat sich Kroos also keinesfalls verdient. "Jeder, der das heute noch schreibt, der hat leider gar keine Ahnung vom Fußball", stellte auch Bundestrainer Nagelsmann fest.

Im Angriffsdrittel sollen Florian Wirtz und Jamal Musiala für Gefahr sorgen. Die beiden 21-Jährigen verfügen über einige außergewöhnliche Fähigkeiten. Durch ihre enge Ballführung sind sie jederzeit dazu in der Lage, tiefstehende Gegner aus dem Konzept zu bringen.

Taktik und Formation

Julian Nagelsmann präferiert eine 4-2-3-1-Grundformation. Grundsätzlich steht die deutsche Nationalmannschaft für eine auf Ballbesitz fokussierte, dominante Spielweise.

Diese Herangehensweise birgt eine gewisse Gefahr: Man ist außerordentlich anfällig für Kontersituationen. Um dem entgegenzuwirken, setzt der Bundestrainer bevorzugt auf schnelle Innenverteidiger: Jonathan Tah und Antonio Rüdiger. Beide halten im Regelfall diszipliniert ihre Position.

Im Spielaufbau wird das Duo von einem der beiden Sechser unterstützt. So lässt sich Toni Kroos gerne auf Höhe der Abwehrkette fallen, während sein Partner im Zentrum - vorzugsweise Robert Andrich - das Zentrum hält.

Wahlweise bekommt dieser Unterstützung von einem der Offensivspieler. So ist Kai Havertz auf dem Papier zwar Mittelstürmer, er lässt sich im Spielaufbau aber häufig ins Mittelfeld fallen.    

In eigenem Ballbesitz positionieren sich die Außenverteidiger Joshua Kimmich und Maximilian Mittelstädt vorzugsweise auf dem offensiven Flügel. Dadurch soll der Gegner in die Breite gezogen werden. Die Flügelstürmer - voraussichtlich Florian Witz und Jamal Musiala - positionieren sich hingegen in den zentralen Halbräumen.

EM 2024: Alle wichtigen Infos auf einen Blick

Stärken: Qualität, Hierarchie, Wir-Gefühl

Das DFB-Team verfügt über extrem hohe individuelle Qualität. Ein Blick auf das Champions-League-Finale zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund (2:0) ist der Beweis: Vier deutsche EM-Teilnehmer standen von Anfang an auf dem Spielfeld (Schlotterbeck, Füllkrug, Kroos, Rüdiger).

Dem Bundestrainer steht eine Mannschaft zur Verfügung, die den Ball gerne in den eigenen Reihen hält. Eine hohe Ballzirkulation, schnelle, direkte Zuspiele und Mut zum Risiko locken auch defensiv orientierte Mannschaften aus der Reserve.

Auch die interne Hierarchie ist ein echter Trumpf. Nagelsmann hat seinen Spielern im Frühjahr mitgeteilt, wen er als Kandidat für die Stammelf betrachtet und wer lediglich als Ergänzungsspieler vorgesehen ist. Diese Gespräche zu führen, war sicher nicht einfach. Doch die ungewöhnliche Herangehensweise hat einen großen Vorteil: Jeder weiß, woran er ist.

In der Nationalmannschaft hat man grundsätzlich nur wenig Zeit zur Verfügung, um Spielzüge zu studieren oder aus einer Vielzahl von Individualisten eine funktionierende, homogene Mannschaft zu formen. Durch seine klare Kommunikation wirkte der Bundestrainer diversen Streitigkeiten frühzeitig entgegen.

Die Stimmung im eigenen Land hat sich mittlerweile deutlich verbessert. Innerhalb weniger Monate schafften es Nagelsmann und die DFB-Marketingabteilung ein neues "Wir-Gefühl" zu erzeugen.

Zu einer öffentlichen Trainingseinheit in Jena waren vor wenigen Tagen 15.000 Fans gekommen. Entsteht erst einmal echte EM-Euphorie, steht einem neuen Sommermärchen nichts im Weg.     

Schwächen: Tiefstehende Gegner

Die deutschen Schwächen sind vorrangig taktischer Natur. Wie bereits erwähnt, Julian Nagelsmann bevorzugt eine dominante und mutige Spielweise.

Gegen den Ball zeichnet sich das DFB-Team durch hohen Druck auf den ballführenden Spieler aus. Häufig wird dabei der gegnerische Außenverteidiger als Pressingtrigger auserkoren. 

Dabei attackiert der Flügelstürmer den ballführenden Gegner, der ballnahe Außenverteidiger übt währenddessen frontalen Druck aus. Auch einer der beiden Sechser orientiert sich in solchen Aktionen Richtung Seitenlinie.

Klappt das Pressing und gelingt der Mannschaft dadurch ein hoher Ballgewinn, führt das höchstwahrscheinlich zu einer gefährlichen Torchance. Wird das Pressing aber überspielt, steht dem Gegner viel Raum im Zentrum zur Verfügung. Dieser wiederum kann recht simpel bespielt werden und als Grundlage für einen gefährlichen Konter genutzt werden.

Zudem hatte Deutschland im Testspiel gegen die Ukraine (0:0) klar erkennbare Probleme mit der gegnerischen Fünferkette. Hier stößt das von Nagelsmann praktizierte 4-2-3-1 an seine Grenzen. Lässt sich die gegnerische Fünferkette nicht naiv vom eigenen Strafraum weglocken, kann das DFB-Team kaum Raumgewinne erzeugen.

Insofern der Bundestrainer bis zum EM-Start am 14. Juni gegen Schottland eine neue Variante findet, die als Lösung gegen diszipliniert verteidigende Fünferketten besser funktioniert, muss man sich hierum aber keine gigantischen Sorgen machen. 

EM 2024 Team-Guide: Alle 24 Mannschaften im Portrait

Prognose: Gruppenphase die größte Challenge

Es klingt etwas seltsam, doch die größte Herausforderung bei der EM 2024 erwartet die deutsche Nationalmannschaft in der Gruppenphase.

Mit Schottland, Ungarn und der Schweiz wurden drei unangenehme Gegner in die deutsche Gruppe gelost. Gegen jede dieser Mannschaft ist das DFB-Team der klare Favorit.

Deutschland trifft bei der EM 2024 zunächst auf Schottland, Ungarn und die Schweiz.
Deutschland trifft bei der EM 2024 zunächst auf Schottland, Ungarn und die Schweiz.Flashscore

Eine gefährliche Ausgangslage. Bei der WM 2018 und bei der WM 2022 schied man jeweils nach der Vorrunde aus. Die vermeintlich einfachen Gegner erwiesen sich als die größten Stolpersteine. Denn gegen tiefstehende Gegner hat man immer noch die größten Probleme.

Übersteht man die Gruppenphase, könnte in der Heimat eine echte Euphorie entstehen. Dann wäre Deutschland alles zuzutrauen, vielleicht sogar der Titel. Unser Tipp: Im Halbfinale ist Schluss.

Eine Analyse von Micha Pesseg.
Eine Analyse von Micha Pesseg.Flashscore