In der griechischen Mythologie ist Ajax der Große einer der mächtigsten Krieger seiner Zeit, so stark, dass ihn kein Gegner besiegen kann. Dennoch stirbt er als junger Mann, als er sich das Leben nimmt, nachdem Odysseus an seiner Stelle am Ende des Trojanischen Krieges die Rüstung des legendären Achilles erhalten hat. Nicht einer seiner vielen Feinde besiegt ihn, sondern er selbst, und das Gleiche kann man derzeit über den nach ihm benannten Fußballverein sagen.
Mit seiner weltweiten Reputation, seiner Jugendakademie und seiner finanziellen Stärke hat Ajax die Mittel, den niederländischen Fußball zu dominieren, wenn es gut läuft. Genau das tat es vier Spielzeiten lang, von 2018 bis 2022, und gewann sechs Trophäen, darunter alle drei möglichen Ligatitel in diesem Zeitraum (die Saison 2019/20 wurde aufgrund der Corona-Pandemie nicht beendet).
Mit Erik ten Hag als einem der besten Trainer der Welt und Sportdirektor Marc Overmars, der auf dem Transfermarkt immer wieder die richtigen Entscheidungen traf, hätte es nicht besser laufen können. Doch dann, in einer kalten Februarnacht, begann die Blase zu platzen.
An diesem Abend wurde bekannt, dass Overmars eine Reihe von unangemessenen Textnachrichten und Fotos an weibliche Mitarbeiterinnen verschickt hatte und deshalb von seinen Aufgaben entbunden wurde. Die Trennung von ihm war unumgänglich, aber es folgten eine Reihe von Fehlentscheidungen, die die Dominanz in ein Trümmerfeld verwandeln sollten.
Die Besetzung der Schlüsselpositionen
Der Vorstandsvorsitzende Edwin van der Sar entschied sich dagegen, schnell einen direkten Ersatz für Overmars zu finden. Stattdessen übergab er die Aufgaben an den Technischen Direktor Gerry Hamstra und stellte den ehemaligen Spieler Klass-Jan Huntelaar als Assistenten ein, während er sich selbst stärker in die sportlichen Belange einbrachte, obwohl er abgesehen von seiner Spielerkarriere keine Erfahrung auf diesem Gebiet hatte.
Eine überraschende Entscheidung, wenn man bedenkt, dass eine der ersten großen Aufgaben des Trios eine der wichtigsten sein würde: die Suche nach einem Nachfolger für Ten Hag, der zu Manchester United wechselte.
Sie entschieden sich für eine naheliegende Lösung und verpflichteten Alfred Schreduer, der einst Ten Hags Assistent im Verein gewesen war und mit Club Brügge gerade die belgische Liga gewonnen hatte. Obwohl er im Nachbarland gute Arbeit geleistet hatte, hatte der Manager zuvor beim FC Twente und in Hoffenheim Probleme gehabt, sodass viele Fans und Experten von der Verpflichtung nicht überzeugt waren.
Die Skeptiker behielten Recht, als der Niederländer im Januar nach sieben sieglosen Ligaspielen und einer demütigenden 1:6-Heimniederlage gegen Napoli entlassen wurde. Doch er war nicht das einzige Problem, denn Van der Sar und Co. verkauften zu Saisonbeginn mit Lisandro Martinez und Antony - zwei Spieler, die der Trainer eigentlich behalten wollte – und fanden keinen adäquaten Ersatz für sie.
Die technische Brillanz von Martinez wurde durch die Muskelkraft von Calvin Bassey ersetzt. Später musste gar der Vorstand eingreifen, um ein Veto gegen die 20 Millionen Pfund teure Verpflichtung von Lucas Ocampos einzulegen. Letztlich kam er nur auf Leihbasis. Angesichts der Tatsache, dass er nur vier Spiele absolvierte, bevor er den Verein im Januar wieder verließ, war dies eine gute Entscheidung. Bedenklich war eher die Tatsache, dass ein solch kostspieliges Geschäft überhaupt in Erwägung gezogen wurde.
Die kurze Ära Mislintat
Am Ende der Saison 2022/23 hatte der Verein nicht nur den Titel nicht verteidigt, sondern auch die Champions League verpasst, und sowohl van der Sar als auch Hamstra hatten ihren Rücktritt eingereicht. Eines der letzten Dinge, die Van der Sar tat, bevor er den Verein verließ, war die Ernennung eines neuen Fußballdirektors. Er verpflichtete Sven Mislintat, der sich in Dortmund, Stuttgart und beim FC Arsenal Verdienste in der Kaderplanung erworben hatte. Doch die Hoffnung, dass er der ersehnte Overmars-Ersatz sein würde, erwies sich als eine weitere Fehlentscheidung.
Der Deutsche entschied schnell, dass Interimstrainer Johhny Heitinga nicht dauerhaft bleiben würde und machte sich auf die Suche nach einem Ersatz. Die meisten gingen davon aus, dass Peter Bosz, der Mann, der den Klub 2017 ins Finale der Europa League geführt hatte, ernannt werden würde, nachdem er im niederländischen Fernsehen gesagt hatte, dass er offen für eine Rückkehr wäre. Doch Mislintat winkte ab und war nicht interessiert.
Stattdessen schockierte er so ziemlich jeden in den Niederlanden, indem er den wenig bekannten Maurice Steijn anstellte, der Sparta Rotterdam gerade auf den sechsten Platz in der Liga geführt hatte. Das war zugegebenermaßen eine beeindruckende Leistung, aber bis dahin auch die einzige in seiner kurzen Karriere. Dazu verfügte er über keine Erfahrung in einem Verein, der auch nur annähernd so groß war wie Ajax.
Nachdem das geklärt war, wandte sich Mislintat dem Transfermarkt zu, und eine seiner ersten Amtshandlungen war der Verkauf von Jurrien Timber an Arsenal, bevor er sich um einen Ersatz kümmern konnte. Das verärgerte Kapitän und Vereinslegende Dusan Tadic, der daraufhin seinen Vertrag auflöste, weil er der Meinung war, dass der Verein nicht ehrgeizig genug sei.
Bis zum Ende des Sommers verließen auch Mohammed Kudus, Edson Alvarez, Davy Klaassen und Bassey den Klub. Anstatt wie bei Ajax üblich vor allem auf die Jugendakademie zu setzen, gab der Fußballdirektor etwas mehr als 100 Millionen Euro für elf Spieler aus, die noch nie in den Niederlanden gespielt hatten und auf höchstem Niveau weitgehend unerprobt waren.
Mit dem Trainer und den Spielern, die Mislintat ausgewählt hatte, erwischte der Verein einen der schlechtesten Saisonstarts in seiner 123-jährigen Geschichte und holte aus den ersten vier Spielen nur fünf Punkte. Erschwerend kam hinzu, dass der übergangene Peter Bosz inzwischen von der PSV verpflichtet worden war und diese mit einer perfekten Bilanz an der Spitze der Liga stand.
Eine Kontroverse zu viel: Der Fall Sosa
Probleme gab es nicht nur auf dem Spielfeld: Der Einkauf vom Ex-Stuttgarter Borna Sosa durch Sven Mislintat geriet in den Fokus, da dessen Managementfirma Anteilseigner eines von Mislintat gegründeten Datenanalyseunternehmens war. Anders ausgedrückt: Sven Mislintat könnte persönlich viel Geld mit dem Transfer verdient haben. Ob diese Vorwürfe haltbar sind, untersucht momentan der Verein intern.
Bei so viel Aufruhr brauchte Ajax nun ein positives Ergebnis auf dem Spielfeld, um für die nötige Ruhe zu sorgen, doch gegen Erzrivale Feyenoord sollte ein neuer Tiefpunkt erreicht werden.
Schon vor dem Anpfiff von "De Klassieker" war das Chaos im Verein noch größer geworden, denn laut Presseberichten war Mislintat am Vortag auf dem Trainingsplatz gewesen und hatte den Spielern mitgeteilt, dass der Trainer im Falle einer Niederlage entlassen würde. Er soll angedroht haben, selbst dafür zu sorgen, dass die Spieler, die keine Leistung brachten, zu Gunsten seiner Neuzugänge aus der Startelf gestrichen würden.
Gegner Feyenoord sah den strauchelnden Erzrivalen und war bis in die Haarspitzen motiviert. Innerhalb von 20 Minuten gingen die Gäste mit 2:0 in Führung, woraufhin ein Ajax-Fan einen Becher auf das Spielfeld warf. Als es 20 Minuten später 0:3 stand, warfen die Fans stattdessen Fackeln, woraufhin das Spiel gemäß den Vorschriften des niederländischen Fußballverbands unterbrochen wurde, die als Reaktion auf solche Vorfälle in der vergangenen Saison landesweit eingeführt wurden.
Zum Match-Center: Ajax Amsterdam vs. Feyenoord Rotterdam
Zehn Minuten nach Beginn der zweiten Halbzeit wurden weitere Fackeln geworfen, woraufhin das Spiel ganz abgebrochen wurde, doch die verärgerten Ajax-Fans ließen sich davon nicht beirren. Anstatt nach Hause zu gehen, machten sie sich daran, ihr eigenes Stadion zu verwüsten, wobei einige versuchten, in Bereiche des Stadions einzudringen, die für sie nicht zugänglich waren. Die Polizei war schnell vor Ort und musste Tränengas und Pferde einsetzen, um die Gegend zu räumen, denn das Ausmaß der Ausschreitungen war so groß wie nie zuvor.
Den ganzen Tag über forderten die Fans, dass sowohl Mislintat als auch Steijn entlassen werden sollten. Am Abend trennte sich der Verein nach weniger als einem Jahr von seinem deutschen Sportdirektor, doch abgewendet ist die Krise damit noch lange nicht.
In den griechischen Mythen erhalten die Helden, wenn sie es am nötigsten brauchen, Hilfe von den Göttern. Ajax der Große ist einer der Helden, die von dieser Hilfe profitieren. Als er während des Trojanischen Krieges versucht, den Leichnam von Achilles vom Schlachtfeld zurück ins Lager zu bringen, erhält er Hilfe von Athene, der Göttin des Krieges. Der AFC Ajax braucht jetzt einen solchen Retter, aber wer das sein wird, ist unklar.
Als sein ehemaliger Verein 2010 in Schwierigkeiten geriet, trat Johan Cruyff als Berater auf und inszenierte die so genannte samtene Revolution, indem er ehemalige Spieler wie Overmars, Van der Sar, Frank de Boer (Manager) und Dennis Bergkamp (Jugendtrainer) in Schlüsselpositionen einsetzte und sie anwies, sich auf die Entwicklung junger Talente und attraktiven Fußball zu konzentrieren. Es folgten vier Ligatitel in Serie.
Da Cruyff nicht mehr unter uns weilt, hoffen die meisten, dass Louis van Gaal zurückkehrt, um diesmal eine eigene Revolution zu inszenieren. Doch der Großmeister und ehemalige Bayern-Coach sagte aus gesundheitlichen Gründen ab. Der Mann, der 1995 die letzte Champions League für den Klub gewann, könnte trotzdem in anderer Funktion (beispielsweise als inoffizieller Berater) zurückkehren. Ob seine Liebe zum Verein den Stress aufwiegt, den ihm eine solche Rolle in einer der größten Krisen der Vereinsgeschichte bereiten würde, ist aber sehr ungewiss.