Sich selbst treu geblieben: Bundesliga-Aufsteiger Heidenheim im Portrait
Wenngleich Heidenheim das Jahr 1846 stolz in den Vereinsnamen eingebunden hat, beginnt die Geschichte der Fußballabteilung eigentlich erst im Jahr 1910.
Bis dahin wurde auf den Wiesen in Heidenheim ohne Regeln gespielt, der von Ingenieuren der Maschinenfabrik Voith neu gegründete VfB Heidenheim wollte Ordnung ins Chaos bringen. Der neue Verein gehörte zum aufs Turnen spezialisierten Heidenheimer Sportbund, welcher bereits seit 1846 existierte.
Zwei Männer haben Lust auf Profi-Fußball
Bis ins Jahr 2007 hinein tingelte Heidenheim unter verschiedenen Namen durch den deutschen Amateurfußball. Dann beschloss man schließlich, die Fußball-Abteilung endgültig auszugliedern und den Sprung von der Oberliga Baden-Württemberg in die Regionalliga anzuvisieren. Durch die Neustrukturierung konnten die in der Regionalliga geltenden finanziellen Auflagen leichter erfüllt werden.
Der gebürtige Heidenheimer Frank Schmidt saß schon damals auf der FCH-Betreuerbank. Seit nunmehr fast 26 Jahren ist Schmidt bereits Chefcoach an der Ostalb. 2003 hatte ihn der Vorstandsvorsitzende Holger Sanwald zum Verein gelotst, damals war Schmidt noch Spieler. Schmidt und Sandwald sind das Herz und die Seele beim 1.FC Heidenheim und haben den Verein entscheidend geprägt.
Gemeinsam konzipierten sie taktische Visionen, tüftelten an der Kaderplanung, planten Umbrüche und feierten zahlreiche Erfolge. 2008 nahm man erstmals am DFB-Pokal teil, 2014 wurde Heidenheim Meister in der 3. Liga und stieg in die 2. Bundesliga auf. 2023 schließlich fand das Heidenheimer Märchen ein vorläufiges, wunderbares Ende. Am 34. und letzten Spieltag in der 2. Bundesliga 2022/23.
Ein märchenhafter Aufstieg
"Das erwarte ich von meiner Mannschaft: Ein Spiel erst aufzugeben, wenn der Schiedsrichter abgepfiffen hat", hatte Frank Schmidt in einer SWR-Kurzdoku 2020 gesagt. Erwartungen, die sie am 28. Mai dieses Jahres aufs Wort erfüllen sollte.
In der 57. Minute lag Heidenheim gegen Jahn Regensburg 2:0 zurück. Zeitgleich lag der Hamburger SV in Sandhausen 1:0 in Führung. Wie schon 2020 schien eine herausragende Heidenheimer Saison nur auf dem 3. Tabellenplatz der 2. Liga zu enden.
Platz drei? Das heißt: Relegation gegen einen etablierten Bundesligisten. Platz drei? Das heißt: In Hin- und Rückspiel auf ein echtes Wunder hoffen zu müssen.
15-mal wurde seit 2009 die Relegation um einen Platz in der deutschen Bundesliga ausgetragen - nur dreimal setzte sich dabei die unterklassige Mannschaft durch. Zu groß sind die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Bundesliga und 2. Bundesliga, als dass im direkten Vergleich tatsächlich Chancengleichheit gewährt wäre.
Doch dann passierte es. Stück für Stück bahnte sich das große Drama an. Regensburg-Verteidiger Benedikt Saller erzielte in Minute 58 ein Eigentor - nur noch 2:1. In der dritten Minute der Nachspielzeit zeigte Schiedsrichter Storks auf den Punkt. Jan-Niklas Beste verwandelte den fälligen Strafstoß - nur noch 2:2.
In der neunten Minute der Nachspielzeit schlug schließlich die große Stunde von Tim Kleindienst. Kleindienst, ausgerechnet Kleindienst!
1,94 Meter ist er groß, sein Torriecher ist legendär. Kleindienst ist in Heidenheim nur für eine einzige Sache verantwortlich: dafür, irgendwie den Ball über die Linie zu drücken. Er ist der Mann fürs Grobe. Kein Edeltechniker, sondern ein klassischer Mittelstürmer, der auch viel Arbeit gegen den Ball verrichtet. Er stellt sich in den Dienst der Mannschaft und kämpft um jeden Zentimeter.
Der 27-Jährige kam 2019 erstmals zum Verein. 2021 kehrte er nach einem misslungenen Engagement in Belgien wieder nach Heidenheim zurück. Kleindienst verkörpert Heidenheim wie kein anderer. Pünktlich vor Saisonbeginn verlängerte er seinen Vertrag bis 2027. Dass Spieler nach Heidenheim zurückkehren, ist keine Seltenheit. Die familiäre Atmosphäre lädt zum Verweilen ein.
Die neunte Minute der Nachspielzeit also. Jan-Niklas Beste brachte den Ball scharf an den zweiten Pfosten, Kleindienst, der Torjäger höchstpersönlich, drückte das Ding über die Linie - Kleindiensts 25., sein letztes, sein wichtigstes Saisontor. Jetzt steht es 3:2 für Heidenheim. Jetzt bricht bei den 5.000 mitgereisten Fans Ekstase aus.
Plötzlich stand man nicht auf dem ungeliebten Relegationsplatz. Plötzlich war man Tabellenerster, hatte den HSV überholt. Plötzlich war man Bundesligist und trifft bald auf die ganz Großen. Auf Bayern München, Borussia Dortmund, den Lokalrivalen VfB Stuttgart. Nur 70 Kilometer Luftlinie trennen Stuttgart vom beschaulichen 50.000 Einwohner fassenden Städtchen namens Heidenheim an der Brenz.
"Keine Ahnung" von der Bundesliga
In der Bundesliga beginnt Heidenheim ein neues Abenteuer, das größte in der bisherigen Vereinsgeschichte. Kein Grund, um übermütig zu werden. Heidenheim ist und bleibt ein Verein, der aus dem Mittelstand kommt. Seit der Neugründung 2007 hat der Verein einen kometenhaften Aufstieg durchlebt. Nicht, weil ein mächtiger Investor es so wollte. Sondern weil man mit Bodenständigkeit, Bescheidenheit und viel Leidenschaft eine Idylle inmitten des turbulenten Alltags im Profi-Fußball errichtete. Das soll sich auf keinen Fall ändern, trotz der neuen Aufmerksamkeit.
2023/24 soll der Klassenerhalt das einzige Ziel sein. Nach dem gelungenen Aufstieg wurde Trainer Schmidt vom "kicker" gefragt, ob der bedächtige Heidenheimer Weg auch in der Bundesliga der richtige sein wird. Die verblüffend ehrliche Antwort: "Keine Ahnung. Wir werden es aber mit voller Überzeugung angehen. Wir werden uns nicht von den vielen Menschen oder zig Beratern beeinflussen lassen, die es alle besser wissen als wir. Wir machen das schon so lange zusammen, haben eine Menge erreicht und daran halten wir fest."
Im Sommer wurden keine Stars oder etablierte Bundesliga-Spieler eingekauft. Das Halten der Leistungsträger hatte oberste Prorität. Man verstärkte sich nur punktuell. So holte man etwa den kleinen, dribbelstarken Nikola Dovedan zurück nach Baden-Württemberg. Schon zwischen 2017 und 2019 kickte er für den FCH, ehe er für 2,5 Millionen Euro an Nürnberg weiterverkauft wurde. Wie auch für den defensiven Mittelfeldspieler Benedikt Gimber (Jahn Regensburg), zahlte der FCH für den Österreicher keine Ablöse.
Für Marvin Pieringer hingegen überwies man fast 2 Millionen Euro Ablöse an Schalke 04. Der Angreifer war im Vorjahr an Paderborn verliehen, dort erzielte er 18 Scorerpunkte in 23 Zweitliga-Spielen (10 Treffer, 8 Assists). Große Hoffnung setzt man außerdem in Eren Dinkci. Der 21-jährige Offensivallrounder kommt leihweise von Werder Bremen und stand bereits 25-mal in der Bundesliga auf dem Rasen.
Womit er nach Torjäger Kleindienst (26 Bundesliga-Einsätze für Freiburg) und dem 36-jährigen Routinier Norman Theuerkauf (29 Bundesliga-Einsätze für Braunschweig und Frankfurt) kurioserweise die meisten Oberhaus-Minuten aufweist.
Mangelnde Erfahrung bedeutet aber nicht mangelnde Qualität: Kapitän und Abwehrchef Patrick Mainka geht als Leader voran. Jan-Niklas Beste gilt als brandgefährlicher Standard-Schütze und sorgt durch seine Übersicht, seine Dribblings und seine Distanzschüsse auch aus dem Spiel heraus für gigantische Torgefahr.
Klein aber fein
Mit einem Gesamtetat von maximal 60 Millionen Euro ist der 1. FC Heidenheim wirtschaftlich betrachtet der kleinste Verein in der kommenden Bundesliga-Saison. Der Klassenerhalt ist möglich, wäre aber eine echte Überraschung. Doch Überraschungen sind Heidenheim schon einige gelungen. Die Schwaben werden chronisch unterschätzt, daran hat man sich längst gewöhnt.
Seit 2007 hat sich der Verein konstant weiterentwickelt - ohne sich neu erfinden zu müssen. Man blieb sich selbst immer treu. Krisen wurden gemeinsam durchgestanden. So etwa beim Fehlstart 2017/18. Nach vier Niederlagen in den ersten fünf Spielen stellten einige Fans sogar Trainerlegende Schmidt infrage. Geschäftsführer Sanwald reagierte auf seine Weise. Schmidt könne gerne auch einen Vertrag auf Lebenszeit erhalten. Die üblen Mechanismen des schnelllebigen Profigeschäfts scheinen in Heidenheim außer Kraft gesetzt zu sein.
Trotz zwischenzeitlicher Differenzen - am Ende hielt man zusammen. In Heidenheim wird nicht der schönste, aber vielleicht der leidenschaftlichste Fußball gespielt. So hat man schon einige Wunder vollbracht. Wieso also sollte nicht auch das Wunder Klassenerhalt gelingen?