Beziehungsstatus: Es ist kompliziert – Der VfB Stuttgart und Serhou Guirassy
Die Fans und Verantwortlichen des VfB Stuttgart durften aufgeatmet haben, als vor wenigen Tagen die Austiegsklausel von Serhou Guirassy abgelaufen ist. Denn der Guineer besitzt sowohl in der laufenden Winter- als auch in der kommenden Sommertransferperiode eine Ausstiegsklausel. Wie nun der "Kicker" am Mittwoch berichtete, ist die Ausstiegsklausel am vergangenen Wochenende für diesen Winter abgelaufen. Dem Fachblatt zufolge haben die Schwaben nun gute Chancen, dass Guirassy über den Januar hinaus Profi des VfB Stuttgart bleibt.
Das Problem: Die Ausstiegsklausel wird im Sommer wieder aktiv. Nun wäre das vermutlich kein größeres Problem, wenn der VfB einen adäquaten Gegenwert für ihren treffsichersten Stürmer bekommen würde. Doch angesichts des derzeitigen Marktwertes – laut Flashscore 39,7 Millionen Euro – erscheint der entsprechend übereinstimmenden Medien in der Ausstiegsklausel verankerte Betrag in Höhe von knapp 20 Millionen Euro als schlechter Witz.
Kein Serhou Guirassy, keine Punkte
Zumal in den zurückliegenden Spieltagen ein weiteres Problem offensichtlich wird. Ohne Guirassy, der derzeit für Guinea beim Afrika-Cup weilt, geht den Stuttgartern ihre Effizienz vor dem gegnerischen Tor ab. Im vierten Spiel der Saison ohne den Stürmerstar kassierten die Schwaben die vierte Niederlage. Bei der Auswärtsniederlage gegen Heidenheim (2:0) und zuletzt in Bochum (1:0) blieben die Stuttgarter zudem ohne eigenes Tor.
Furioser Start
Serhou Guirassy hatte einen überragenden Start in die Saison. In den ersten sieben Bundesligaspielen erzielte er 13 Tore. Der 27-jährige Stürmer aus Guinea kühlte zwar ab, als der Herbst frostig in den Winter überging, doch das lag zum Teil an seiner im Oktober erlittenen Oberschenkelzerrung.
Die Verletzung schien den technisch begabten und schnellen Stürmer ein wenig aus dem Gleichgewicht zu bringen, der vor der Unterbrechung mit vollem Selbstvertrauen und großer Beweglichkeit spielte. Dennoch erzielte er in seinen letzten fünf Einsätzen in allen Wettbewerben vor der Pause noch drei weitere Tore. Das Besondere war neben der reinen Anzahl seiner Tore, die Art und Weise wie der Nationalspieler aus Guinea seine Treffer erzielt hat.
Guirassys Tore in der Saison 2023/24 fielen in Form von Einwürfen, Kopfbällen, Distanzschüssen und Abschlüssen im Eins-gegen-Eins. Natürlich wurde die Schlange der Interessenten immer länger, nicht zuletzt wegen seiner Ausstiegsklausel in Höhe von 17,5 Millionen Euro – eine bescheidene Summe für einen der erfolgreichsten Torjäger Europas.
VfB arbeitete vergeblich an Guirassy-Verlängerung
Stuttgart hat erfolglos versucht, Guirassys Vertrag neu zu verhandeln und ihn zu ändern. Dass sie sich dazu gezwungen sahen, spiegelt die Tatsache wider, dass sie nie erwartet hatten, dass seine Leistungen so gut sein würden. Das ist verständlich. Während seiner Zeit in Frankreich und Deutschland, bei Lille, Amiens, Köln und Rennes, hatte Guirassy vor der Saison 2022/23 in Stuttgart nie mehr als 10 Ligatore in einer Saison erzielt. Seine Leistung in dieser Saison als Anomalie zu betrachten wäre jedoch falsch und ignoriert die veränderten Umstände beim Verein vom Neckar, der in der Bundesliga auf Platz drei liegt.
Stuttgarts Umstellung von Konter- auf Ballbesitzfußball
Guirassy kam im Sommer 2022 zunächst auf Leihbasis von Rennes nach Stuttgart. Der VfB war erst 2020 in die erste Liga zurückgekehrt und hatte am Ende der ersten Saison Hamburg in der Relegation geschlagen – damit sicherten sich die Schwaben mit ach und krach den Ligaverbleib. Stilistisch waren sie eine tief stehende, auf Konter ausgerichtete Mannschaft.
Guirassys Form (11 Tore in 20 Einsätzen) reichte den Verantwortlichen in Stuttgart aus, um eine Kaufoption in Höhe von 9 Millionen Euro zu ziehen. Doch erst mit der Ankunft von Cheftrainer Sebastian Hoeneß im Frühjahr 2023 – nachdem Pellegrino Matarazzo und Bruno Labbadia innerhalb von sechs Monaten entlassen worden waren – begann der VfB mit der Umstellung auf den ballbesitzorientierten Fußball, den er heute spielt, und brachte dabei die Fähigkeiten des Guineers voll zur Geltung.
Stuttgart ist jetzt eine ganz andere Mannschaft und die Auswirkungen auf Guirassy sind tiefgreifend. In dieser Saison hat er laut Opta bislang in der Bundesliga durchschnittlich 3,8 Schüsse pro 90 Minuten abgegeben und, wie bereits erwähnt, seine Torquote deutlich gesteigert. Am aufschlussreichsten ist, dass sein kreativer Einfluss von nur 0,08 erwarteten Assists (xA) pro 90 Minuten in der Saison 2022/23 auf 0,22 in der aktuellen Saison gestiegen ist. Damit ist Serhou Guirassy gleichauf mit dem Dortmunder Julian Brandt, der größtenteils als Spielmacher agiert.
Das unterstreicht Guirassys Entwicklung zu einem kompletten Stürmer. Er ist kein reiner Strafraumstürmer, der nur auf Tore und Umschaltquoten angewiesen ist, sondern jemand, um den herum ein Angriffssystem aufgebaut werden kann.
Guirassy macht Mitspieler besser
Stuttgarts veränderter Spielstil und die Strafraumpräsenz von Guirassy hat auch das Aufblühen einer Reihe von offensiven Mittelfeldspielern zur Folge: Chris Führich findet auf der linken Seite viel Raum vor, um seine Dribbelstärke einzusetzen und hat sich damit sein erstes Länderspiel für Deutschland gegen die USA erspielt. Enzo Millot im zentralen Mittelfeld ist plötzlich einer der besseren Zehner in der Bundesliga, wenn es darum geht, Chancen zu kreieren. Silas – von dem man immer annahm, dass sein dynamischer Stil eher für Konter geeignet sei – spielt auf der rechten Seite den besten Fußball seiner Karriere.
Stuttgart hat in dieser Saison bisher erfolgreichen und attraktiven Fußball gespielt. Dieses Offensiv-Trio – das zumeist in der Reihe hinter Guirassy spielt – hat die Produktivität des Mittelstürmers stark gefördert, während er die Gegenspieler auf sich zog und die benannten Spieler in seinem Schatten mehr Freiheiten genossen. Er hat sie gebraucht und sie haben ihn gebraucht. Auch der von Brighton & Hove Albion ausgeliehene Stürmer Deniz Undav spielt überraschend stark. Neun Tore erzielte er in 13 Spielen.
Der Hoeneß-Faktor
Dass es dazu kam, liegt auch an der Flexibiltät von Trainer Sebastian Hoeneß. Während Guirassy mit der Oberschenkelverletzung ausfiel, wusste Undav die Gunst der Stunde zu nutzen. Er hing sich voll rein, arbeitete viel fürs Team und traf zudem. Ursprünglich war angedacht, dass im Falle einer Rückkehr von Guirassy, Undav wieder auf die Bank zurück rotiert. Doch zur Überraschung vieler Beobachter stellte Hoeneß sein System von einem Ein-Stürmer- auf ein Zwei-Stürmer-System um. Es funktionierte.
Daher ist die Qualität von Sebastian Hoeneß als Trainer, neben der Leistung eines Serhou Guirassy, ein nicht zu vernachlässigender Faktor für die starke Perfomance des VfB Stuttgart. Unter dem 41-Jährigen haben die Schwaben gute Chancen, sich für die Champions League zu qualifizieren. Den VfB innerhalb einer Saison mit den mehrheitlich gleichen Spielern vom Abstiegskandidaten zu einem möglichen Platz in der europäischen Spitze zu führen ist wohl eine Trainerleistung, die sich mit der von Xabi Alonso bei Bayer Leverkusen messen kann.
Quo vadis VfB und Guirassy?
Ist Guirassy nur ein Nutznießer seines Umfelds und sein Aufschwung ein Nebenprodukt der allgemeinen Verbesserung in Stuttgart? Um es mit dem Titel einer ehemaligen Hip-Hop-Combo zu beantworten: Jein! Einerseits steigen und fallen Spieler immer mit ihren taktischen Gegebenheiten, anderseits hat Guirassy mehr als ein Tor pro Spiel geschossen und trifft mit jedem vierten Schuss. Das sind Topwerte, die deutlich machen, dass der Nationalspieler aus Guinea in hervorragender individueller Form ist. Er hat gezeigt, dass er von den Spielern um ihn herum profitieren und ihnen helfen kann. Man darf gespannt sein, wohin die Wege des VfB und von Serhou Guirassy führen.