Analyse: Pulverfass Schalke 04 - Euphorie und Krise sind hier enge Verwandte
Der FC Schalke 04 befindet sich mitten in einer handfesten Krise. Wer auch immer Thomas Reis als Cheftrainer folgen wird, ist (Interimstrainer inklusive) der 23. Cheftrainer auf Schalke in den letzten zwanzig Jahren. Die Trainerhistorie offenbart tief liegende Probleme, die in den letzten Jahren viel zu oft unter den Teppich gekehrt werden, anstatt sie gemeinschaftlich und professionell zu bewältigen.
Trotzdem bleiben die Königsblauen für die Bundesligen eine große Bereicherung. Man ist nach Mitgliedern bundesweit der zweitgrößte Fußballverein. Durchschnittlich kamen in den bisherigen Heimspielen in der 2. Bundesliga 60.735 Zuschauer in die Veltins Arena. Damit verglichen ist selbst der Andrang in vielen Champions-League-Stadien gering.
Zusammen mit den beiden Schalke-Fans Moritz und Julian, die im Podcast “Knappengeflüster” seit über zwei Jahren regelmäßig das Geschehen im Verein beleuchten, versuchen wir herauszufinden, wieso Schalke einfach keinen Weg aus der Krise finden möchte.
Zum Match-Center: Schalke 04 vs. Hertha BSC
“Schalke ohne Emotionen wäre kein Schalke”
Für Außenstehende ist die Faszination Schalke 04 kaum zu begreifen. Auf Titel warten die königsblauen Fans vergeblich. Zuletzt wurde 2011 der DFB-Pokal gewonnen. In der Vorsaison stieg der Verein zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren aus der deutschen Bundesliga ab. Trotzdem sorgten die Fans durch ihren Enthusiasmus, ihre Treue und ihre Aufopferungsbereitschaft landesweit für Schlagzeilen. Auswärtsspiele wurden zu Heimspielen gemacht. Die Mannschaft ließ sich von der Begeisterung anstecken, kämpfte bis zur allerletzten Minute um das Wunder Klassenerhalt. Vergeblich.
So ergreifend diese Begeisterung war (auch für neutrale Beobachter) offenbarte sie eine mögliche Schwachstelle des Vereins. Das gesamte Umfeld definiert sich durch eine unfassbare Emotionalität - und dementsprechend anfällig für rasche Gefühlswechsel. Der Schichtwechsel zwischen Euphorie und Krise hat Gelsenkirchen seit Jahren fest im Griff. Man träumt und verzweifelt, leidet und jubelt stets im selben Ausmaß.
“Positive wie negative Emotionen gehören zu unserem Verein dazu. Ihr Verlust wäre schlimmer für unseren Verein, die Fans und die Region als jeglicher Abstieg”, erklärten Moritz und Julian mir diesen ungewöhnlichen Charakterzug. Die königsblaue Identität definiert sich aber nicht nur durch Emotionalität auf den Rängen - sondern auch auf dem Spielfeld.
Von den Spielern wird erwartet, dass sie sich für das Trikot zerreißen und kämpfen bis zum Umfallen: “Es spielt keine Rolle, ob man schon als Kind in Schalke-Bettwäsche geschlafen hat oder ob man aus dem Ruhrgebiet kommt. Es geht einzig und allein ums Zerreißen für den Verein.”
Der Begriff “Maloche” spielt im Selbstverständnis eine große Rolle. Der Verein hat seine Ursprünge im Kohle- und Bergbau, in der Arbeiterschicht und ist stolz darauf. Damit einher geht eine gewisse Bescheidenheit. Hohes Anspruchsdenken - wie beim FC Bayern München, der sich am Ende des Tages immer durch die Anzahl der gewonnenen Trophäen definiert - spielt bei S04 eine untergeordnete Rolle: “Langfristig wird es immer der Erfolg sein, der die Fanbase zufriedenstellt oder glücklich macht. Erfolg muss aber nicht gleich Titel heißen. Vielmehr geht es darum, das Maximum aus den vorhandenen finanziellen und sportlichen Gegebenheiten herauszuholen.”
Thomas Reis: Vom Hoffnungsträger zum Sündenbock
Thomas Reis wurde bald nach seinem Amtsantritt im Oktober 2022 zum Hoffnungsträger erklärt. Trotzdem konnte er sich kein Jahr in Gelsenkirchen halten.
Reis stabilisierte eine verunsicherte Mannschaft und führte Schalke trotz eines katastrophalen Saisonstarts fast noch zum Klassenerhalt. Mit klaren Ansagen, Malocher-Pullover und viel Charme holte er die Fans ins Boot - auch Moritz und Julian: “Er hauchte einer toten Mannschaft neues Leben ein. Der S04 trat unter ihm wesentlich mutiger auf als unter Kramer. Zudem schaffte er es, dass Spieler wie Karaman oder Matriciani sich weiterentwickelten und zu wichtigen Bestandteilen der Startelf wurden. Nicht ohne Grund hieß es immer, dass wir mit ihm als Trainer für alle 34 Spieltage letztes Jahr nicht abgestiegen wären.”
Dementsprechend schien es im Sommer richtig und wichtig, trotz des direkten Abstiegs zusammen mit Reis in die 2. Bundesliga zu gehen. Dort funktionierte die von ihm verfochtene Manndeckung aber kaum - was mehrere Gründe hat.
Viele Teams in der 2. Liga (HSV, Magdeburg, St. Pauli, Kiel) verfolgen mit Ball einen lösungsorientierten Satz und wissen genau, wie die enge Mannorientierung umspielt werden kann. Andere Teams (Braunschweig, Wiesbaden) haben kein Problem damit, dem FC Schalke 04 den Ball zu überlassen und sich tief in die eigene Hälfte zurückzuziehen. Außerdem haben die Knappen im Vergleich zum Vorjahr viel individuelle Qualität verloren.
Paul Seguin ist ein erfahrener Spieler, hat am Ball aber bestimmt nicht dieselbe Qualität wie Alex Kral. Kenan Karaman ist fleißig und durchsetzungsfähig, versprüht aber kaum dieselbe Kreativität wie Marius Bülter. Timo Baumgartl hat sein Können in der Vergangenheit oft nachgewiesen, hat aber deutlich weniger Tempo als Moritz Jenz.
Eben jener Timo Baumgartl sorgte mit einer unmissverständlichen Kritik an Reis für Aufsehen. “Wir spielen natürlich mit dem Feuer. Das ist eine risikobehaftete Sache, die wir da machen. (...) Wenn wir so jedes Spiel angehen gegen spielstarke Mannschaften, dann wird es brutal schwer für uns. Dann liegt man immer mal hinten. Man kann nicht immer zwei, drei Tore aufholen. Man muss auch mal zu null spielen und kompakt stehen”, analysierte Baumgartl nach einer 3:1-Niederlage am Millerntor.
Offen ist, wieso Baumgartl mit diesen so direkten Worte an die Öffentlichkeit ging. Klar ist: Der Verteidiger legte den Finger direkt in die Wunde.
Moritz und Julian üben ähnliche Kritik wie der zwischenzeitliche suspendierte Baumgartl: “Leider waren all die Niederlagen mehr als verdient und selbst die Punktgewinne waren teilweise mehr als glücklich und spiegelten nicht den Spielverlauf wider. Neben den schlechten Ergebnissen hat aber vor allem das Auftreten der Mannschaft und die defensive Anfälligkeit das Schicksal von Thomas Reis besiegelt.”
Fehlende Führungsstärke?
Doch Thomas Reis wurde nicht nur sein enges taktisches Korsett zum Verhängnis, sondern auch die Gemütslage im Verein. Schalke emotionalisiert, das wissen auch viele Boulevard-Medien. Schalke-Ikone Ralf Fährmann wurde in den letzten Wochen häufig außen vor gelassen. Das motivierte einige Zeitschriften bereits vor ein paar Wochen dazu, von einer verpesteten Stimmung in der Kabine zu berichten.
Befeuert wurden diese Spekulationen schließlich durch ein Statement des Sportvorstandes Peter Knäbel. Er begründete die Trennung von Thomas Reis damit, dass die Situationen “sportlich wie menschlich festgefahren” sei. Die Chance, Reis ohne bitteren Beigeschmack zu verabschieden, verpasste Knäbel. Nur wenige Tage später verlor eine sichtlich verunsicherte Mannschaft 3:1 in Paderborn.
Danach kritisierte Knäbel die Spieler ohne Rücksicht auf Verluste. Er bezeichnete den Auftritt als “mutlos”, “naiv” und “dämlich”. Dann verteilte der 57-Jährige zwei Ohrfeigen auf einmal - an den Ex-Trainer und an die Spieler: “Jetzt ist eine Ausrede weniger da.” Ein Statement ohne Fingerspitzengefühl. Anstatt Hoffnung zu versprühen, fütterte der Sportchef sämtliche Kritiker.
Im Vergleich dazu sind die deutlichen Ansagen von Timo Baumgartl eine Woche zuvor fast Kinkerlitzchen.
Wenngleich Knäbel die sportlichen Kompetenzen kaum abgesprochen werden können, muss seine Außendarstellung zumindest als unglücklich beschrieben werden. Ob sein im Sommer 2024 auslaufender Vertrag verlängert wird, ist unklar - zumal Schalke 04 nach der Trennung von Dr. Bernd Schröder im Juli 2023 ohne Vorstandsvorsitzenden dasteht.
“Die Trainersuche ist ein sehr heikles Thema”
Dass Knäbel dafür hauptverantwortlich ist, den passenden Nachfolger für Thomas Reis zu finden, sorgt auch bei Moritz und Julian für ein paar Sorgenfalten: “Die Trainersuche ist ein sehr heikles Thema. Schließlich wird Peter Knäbel derjenige sein, der den neuen Trainer einstellen wird, obwohl seine eigene Zukunft mehr als ungewiss ist.”
Sandro Schwarz sagte Schalke 04 bereits ab, auch andere Coaches haben wohl Angst davor, keine lange Zukunft auf Schalke zu haben. Die Ansprüche an den neuen Mann an der Seitenlinie sind dennoch überdurchschnittlich groß, wie mir auch die beiden Schalke-Fans versichern: “In unserer Idealvorstellung finden wir einen Trainer, dem man langfristig zutraut, einen Spielstil zu etablieren. Kurzfristig muss es aber das Ziel sein, aus der Ergebniskrise zu kommen, um in eine ruhigere Tabellenregion zu gelangen.”
Auf dem Spielfeld brauche die Mannschaft künftig einen klaren Plan: “Zu viel wurde in den letzten Jahren die Maloche in den Vordergrund gerückt. Kampfgeist, Siegeswille und alles aus sich herauszuholen - sind Grundvoraussetzungen für Erfolg im Fußball. Auf Dauer wird das jedoch nicht reichen, um wieder den Anschluss an die Bundesliga zu finden. Es braucht eine Idee, wie man mit Ball agieren möchte.”
Moritz und Julian sehnen sich außerdem nach einem vom Verein vorgegebenen Konzept, einer einheitlichen Spielidee. Dass sich mit jedem neuen Trainer auch die Spielweise der Mannschaft verändert, lässt das ohnehin fragile Konstrukt Schalke zusätzlich wackeln.
Die Gelsenkirchener haben immense Probleme bei der Trainersuche. Ein Szenario, in dem man zu einer kurzfristigen Lösung greifen muss, erscheint all zu realistisch. Die Namen Bruno Labbadia und Felix Magath waren bereits zu hören. Laut "Bild" befindet sich Schalke 04 bereits in intensiven Verhandlungen mit dem Belgier Karel Geraerts. Eine interessante Entscheidung.
Die Erfahrungen aus der Vorsaison sollten als abschreckendes Beispiel dienen. Damals feierte man zwar den Aufstieg, suchte anschließenden aber händeringend nach einem passenden Trainer für die Bundesliga. Frank Kramer kam, Frank Kramer musste gehen. Und reihte sich in die viel zu lange Liste ehemaliger Schalke-Trainer ein.